[rohrpost] Gegen den digitalen Stalinismus
Thorsten Schilling
thorsten.schilling at berlin.de
Son Nov 10 18:39:31 CET 2013
Gegen den digitalen Stalinismus
von Thorsten Schilling
(überarbeitetes Grußwort für die Jahreskonferenz der Berliner Gazette,
„Complicity“, am 09.11.2013)
Vor 24 Jahren fiel die Berliner Mauer und mit ihr der Eiserne Vorhang.
Der kalte Krieg und damit der 2. Weltkrieg fand sein friedliches Ende.
Heute sehen wir im Reich der digitalen Kultur neue Eiserne Vorhänge
entstehen, dieses mal mitten in der westlichen Welt – es zeigen sich
starke Symptome einer Art digitaler Stalinismus.
Die aggregierte Verbindung der zentralistischen und kaum kontrollierten
Datenregimes und des darin versammelten Des/Informationsapparates von
digitalen Konzernen wie Google, facebook, Amazon, Apple etc. und den
Sicherheitsapparaten der Exekutive wie NSA u.a. können in Ihrer
Machtballung gar nicht unterschätzt werden.
Mich erinnert einiges daran an Zustände hinter dem Eisernen Vorhang, wie
ich sie in der DDR erfahren habe. Auch wenn historische Analogien immer
schief sind, vielleicht helfen sie ja für einen Moment, sich der
Tragweite der aktuellen Geschehnisse bewusster zu werden. Ich nenne das
derzeit vorherrschende Datenregime deshalb einen aufkommenden „digitalen
Stalinismus“.
Digitaler Stalinismus heißt:
- permanente massenhafte Überwachung von Kommunikation und Verhalten
(z.B. als Konsumentendaten, Verbindungsdaten auf Plattformen etc., von
Individuen, Institutionen, Gruppen etc.)
- institutionalisierte Paranoia, versehen mit ungeheuren, maßlosen
personellen, finanziellen und technischen Ressourcen
- Bereiche unkontrollierter, für demokratische Kontrolle unzugänglicher
(Über)Macht (der Herrschaftsraum arkaner Politik, im Namen von
Nationalen Sicherheits-Interessen oder im Namen des Geschäftsgeheimnisses)
- eine wachsende Kultur des Misstrauens, der Verdächtigungen, der
Diffamierungen, Desinformationen und der diffusen Furcht im digitalen Alltag
Die Wirklichkeiten dieser vernetzten autoritären Praxis stellen
substantielle Bedrohungen für grundlegende Werte und Regeln der
liberalen Demokratie dar.
In weiten Bereichen des kommerzialisierten und überwachten digitalen
Lebens gilt „habeas corpus“ kaum noch, unteilbare Rechte des Individuums
existieren hier nicht mehr.
Im Angesicht der großen und kleinen Datenfürsten wie Google, Amazon,
facebook, NSA etc. kann es so etwas wie das Individuum nicht wirklich
geben. Individuum bedeutet im Wortsinn unteilbar zu sein. In den
digitalen Fürstentümern oder den Gulags kommerzieller Clouds habe ich
als Einzelner aber alle Bestandteile meines Datenkorpus immer schon
verloren gegeben und bestenfalls zurück geliehen bekommen.
Hier kann und soll ich nicht Souverän meiner Daten sein. Wie im
Stalinismus und anderen Absolutismen gibt es nur an der Spitze der
Hierarchien noch so etwas wie einen Souverän, von dessen Güte oder
Wahnsinn dann alle abhängig bleiben.
Wo Un/Recht war, wird Un/Gnade sein.
Es ist eine der historische Aufgaben unserer Gegenwart, diesen Tendenzen
und Praktiken eines neuen übermächtigen Autoritarismus wirksam entgegen
zu treten.
Eine Anfang könnte darin bestehen, sich unvoreingenommener mit den
aktivistischen, dissidentischen Herangehensweisen und Kulturen zu
konfrontieren. (Vielleicht ist ja Snowden ein Sacharow unserer Zeit? Wie
dieser kommt er aus dem technische Apparat einer Supermacht. Es ist
allerdings eine bittere und noch nicht durchschaubare Form der
Komplizenschaft, wenn er nun unter der Obhut der Nachfahren des KGB sein
Asyl fristet.)
In den dissidentischen Kulturen des Kalten Krieges waren Gewissensfragen
leitend, waren die Werte unverzichtbarer Würde, demokratischer
Freiheiten und Rechte das Prinzip des Handelns. Diese Werte und
Gewissensentscheidungen wogen die Gefahren für Leib und Leben immer
wieder auf, gaben der Entschiedenheit und dem persönlichen Mut im Alltag
Kontur. Solche Haltungen sind heute wieder gefragt.
Aber dissidentische Praktiken, selbst kritische Expertenkulturen sind
nicht die Lösung, sie können nur einen Anfang machen. Die Mauer ist 1989
nicht durch ein paar Dutzend mutige Protestanten gestürzt worden. Erst
als die Massen dabei waren, fiel das hohle Regime an seiner eigenen
Schwäche zusammen.
Die Ideen, Konzepte, Lösungsansätze, Forderungen, die in den
verschiedenen kritischen Diskursen und Praktiken, sei es im Aktivismus,
sei es in der Publizistik, in wissenschaftlichen oder technischen
Netzwerken kursieren, müssen neu zusammenfinden und Einzug in den
Mainstream der öffentlichen Debatten halten. Das Unbehagen muss
politisch werden.
Denn Alternativen zum digitalen Stalinismus sind möglich und ja auch
schon bzw. immer noch wirklich. Neue Allianzen müssen dafür gefunden und
eingegangen werden.
Die Bedrohung des klassischen Geschäftsmodells des
privatwirtschaftlichen Journalismus durch die Oligopole von Google etc.
auf dem digitalen Werbemarkt bringt die Interessen von Verlegern näher
an kritische, ja auch aktivistische Diskurse als beiden Seiten bisher
bewusst zu sein scheint. Und wenn die NSA unter dem Vorwand der
Terrorbekämpfung auch massive Wirtschaftsspionage treibt, sollte es im
Interesse allein schon von Technologie- und Telekommunikationskonzernen
in Deutschland bzw. Europa sein, hier an eigenständigen europäischen IT
Infrastrukturen zu arbeiten, bzw. eine proaktivere europäische
Industriepolitik in diese Richtung zu unterstützen.
Europa wird sich angesichts dessen ohnehin neu definieren müssen. Nicht
nur als Wirtschafts- und Währungsraum, sondern auch im digitalen Feld
als eigenständige Kraft, die sich ihrer Interessen bewusst wird und viel
entschiedener notwendige Ressourcen investiert. Europa steht vor der
dringenden Frage, ob und wie es sich hier einigen und bewegen kann. Ein
dynamischer digitaler europäischer Raum, mit eigenen Ideen,
Innovationszyklen und auch datenethischen Standards könnte aus solchen
neuen Allianzen entstehen. Vernetzt mit seinen Partnern, äußerer Willkür
aber nicht unterworfen.
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