[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mit Jan 12 17:40:09 CET 2005


Auf die Gefahr hin, ein abgedroschenes Feld neu zu beackern:

In der Medientheorie-Debatte der rohrpost und auch im Wiki war oft die
Rede davon, daß "Medien" ein unscharfer, unzureichend umrissener Begriff
sei. In der Zwischenzeit bin ich auf einen Definitionsvorschlag von
Hartmut Winkler gestoßen <http://wwwcs.upb.de/~winkler/medidef.html>,
der beim ersten Lesen sofort einleuchtet, bei längerem Nachdenken
jedoch weiterhin Fragen aufwirft. Hier ein Versuch, den Begriff
historisch aufzuschlüsseln:

- Der Begriff "Medium" stammt aus der Physik des 19. Jahrhunderts
und ist eng mit dem (naturwissenschaftlich überholten) Konzept des
Äthers verknüpft. - Siehe dazu auch Antje Pfannkuchens Arbeit "Vom Vortex zum
Vortizismus" <http://www.newvortex.de/vortex.html>. 

Der Begriff des Äthers wird in metaphorischer Form noch für das
Radio und andere Funktechniken gebraucht, z.B. wenn davon die Rede ist,
etwas vom "über den Äther zu schicken". Diese Vorstellung existiert
implizit auch im kommunikationswissenschaftlichen Modell vom Medium als
Mittelstrecke zwischen Sender und Empfänger einer Botschaft, wie es
Anfang des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Varianten (u.a. im
Strukturalismus, z.B. bei Jakobson, und in der angloamerikanischen
Linguistik und Semiotik, z.B. bei I.A. Richards) formuliert wurde.

- Die Computerkultur hat einen vergleichsweise präzisen Begriff von
"Medium" bzw. "Medien" im Sinne von materiell soliden, in sich
abgeschlossenen Speichern und Leitern, die von einer Lese-, Schreib- und
Steuerungshardware abgekoppelt sind, bzw. nur materielle Komponenten der
letzteren bilden.  

Also: Ein CD-Rohling ist ein Medium, ein CD-Laufwerk jedoch nicht und
ein Computer schon gar nicht. Ein Halbleiter ist ein Medium, ein Chip
jedoch nicht. Ebenso wenig ist, im Unterschied zum Äther-Modell, eine
Funkstrecke ein Medium.

- Das Wort Medientheorie geht auf Marshall McLuhan zurück, auch wenn der
Begriff des "Mediums" im Sinne einer Kommunikations- und Kulturtechnik
bereits früher, z.B. in Siegfried Kracauers "Theorie des Films" von 1960
zu finden ist. Leider hat McLuhan eher zur Verwirrung, denn zur
Definition des Begriffs beigetragen, indem er z.B.  elektrisches Licht
und Handfeuerwaffen als Medien analysiert. "Medium" ist für McLuhan
somit weitgehend synonym mit Technik im allgemeinen, und wird von ihm
nur mit der Einschränkung versehen, daß es Technik als Extension
menschlicher Fähigkeiten beschreibe. (Kubricks "2001" ist, zu weiten
Teilen, eine praktische Meditation dieser Theorie.)

Die Frage ist nur, inwiefern dies nicht auf alle Technik zutrifft und
Medientheorie in diesem Sinne schlicht Kulturwissenschaft der Technik
ist. (In diese Richtung scheint zeitgenössische deutsche
Medienforschung, wie sie z.B. am Berliner Helmholtz-Zentrum betrieben
wird, zu tendieren.)

- Ein zweite Art der Medientheorie und -forschung begreift Medien
wörtlicher als Kanäle im Sinne von Shannons Informationstheorie und
analysiert die kulturelle Implikationen von Leiterbahnen, elektrischen
Aufzeichnungstechniken und Schaltungen. (Dies trifft für die von
Friedrich Kittler und seinen Schülern in den 80er und 90er Jahren
praktizierte Medienwissenschaft zu.)  q}llerdings metaphorisiert und
metonymisiert letztlich auch sie den Begriff des Mediums, wenn sie  z.B.
von Radio und Computer als Medien spricht, und nicht bloß von Funkwellen
und Halbleitern.

- Eine dritte Art der Medienforschung, die international verbreitetste,
begreift "Medium" schlicht als Kürzel für "neues Medium". In den 1960er
war ihr Hauptgegenstand Radio und Film, in den 1970er und 80er Jahren
Fernsehen und Video, in den 1990er Jahren Computer und Internet. Diese
Medienwissenschaft firmiert als allgemeine geisteswissenschaftliche
Rand- und Experimentaldisziplin, die alles beherbergt, was aus dem
Raster etablierter geistes- und kunstwissenschaftlicher Disziplinen
fällt. Analoges gilt für "Medienkunst" im Verhältnis zu zeitgenössischer
Ausstellungskunst. 


- Eine vierte Art der Medienforschung leitet sich aus der dritten ab:
Aus kritischer Unzufriedenheit darüber, nur temporär das jeweils "neue"
zu beschreiben, sucht sie aus ihrem Forschungsfeld einen allgemeinen
Begriff des Mediums und ihrer Disziplin zu gewinnen. Im Unterschied zum
zweiten Typus der Medienwissenschaft geht sie also nicht
quasi-strukturalistisch von einem technischen Begriff der Information,
des Kanals und des Mediums aus, um daraus konkrete Beobachtungen zu
abzuleiten, sondern beginnt phänomenologisch mit der Beobachtung eines
als "Medien" zunächst nur heuristisch umrissenen Felds, um daraus
Begriffe abzuleiten. 

Hierzu zähle ich auch [hoffentlich zu Recht und mit Bitte um Korrektur,
falls ich daneben liegen sollte], Hartmut Winklers Medienwissenschaft und 
Definitionsvorschlag des Begriffs "Medium".  Mit McLuhan stimmt er darin
überein, Medien als technisch, formal und tendenziell unsichtbar [also
vom Menschen als zweite Natur angeeignet] zu begreifen, im Unterschied
zu McLuhan jedoch schränkt er sie auf symbolische und
kommunikative Techniken ein. Anders als eine an Shannon
orientierte "harte" Medienwissenschaft durchbricht er das
Sender-Empfänger-Schema zugunsten des Begriffs der Vernetzung, der
Berücksichtigung von fluiden "Praxen" über bloße "Niederlegungen" im
Sinne von Produkten und Technik hinaus, und der Vorstellung
gewissermaßen eines hermeneutischen Zirkels zwischen Praxen und
Niederlegungen. [Der auch dem McLuhanschen Postulat vom Medium als
Botschaft widerspricht.] 

Winklers Medienbegriff ist inklusiv, nicht exklusiv, und schließt daher
auch solche Definitionen des Mediums ein, die im Sinne der zweiten
Medienwissenschaft metonymisch bzw. metaphorisch ist, also z.B. das
Medium als Institution. (Der Nachteil hierbei ist eine Unschärfe des
Worts Medium: Was ist gemeint, wenn vom Medium Radio die Rede ist?
Funkübertragung oder Senderbürokratien?) 

Problematisch bleibt auch die Unterscheidung von Medien und Zeichen bzw.
Zeichensystemen. Winklers Text verwendet beide Begriffe parallel, ohne
daß klar würde, wie genau Zeichen bzw.  Zeichensysteme von Medien zu
unterscheiden wären. Welchen Anspruch hat Medienwissenschaft, wenn sie
zugleich auch Zeichenwissenschaft ist? Träte sie also an die Stelle der
Semiotik, müßte dann z.B. Linguistik künftig eine Unterdisziplin der
Medienwissenschaft sein? 

-F


-- 
http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/