[rohrpost] DEAF 2000 / I
Dieter Wieczorek
Dieter Wieczorek" <dieter_wieczorek@hotmail.com
Sun, 14 Jan 2001 23:35:44
Dutch Electronic Art Festival 2000
kurzer Rueckblick I:
Wo kann man sonst noch Laserstrahlexperimente auf ausgehängten Wohnungstüren
durchführende (Nils Abramson), in anstürzenden Flugzeugen gemeinsam mit
Kosmonauten zwanzig Sekunden dauernde Schwerelosigkeitsexperimente
vollziehende (Zero Gravity Projects), ihren konzeptgewollten Realtod
ankündigende (Dragan Zivanov), über die Schwierigkeit der Totalabbildung
von Immunsystemen in technischen- und Cyberräumen berichtende (Eugene
Thacker), den Gesang auf die über den Datenflusse der Städte dahinschwebende
Glitch-Musik („beauty is uglyness repeated“) anstimmende (Kodwo Eshun) und
gebannt auf virtuelle Gebilde erzeugende, mit x-hundertfacher
Umdrehungsgeschwindigkeit rotierende Farbtafeln blickende (Bruce McClure),
an einem Ort zusammenkommende und gutgelaunt gemeinsam einen Wodkatoast auf
den Astronautenpionier Juri anstossende Menschen sehen, wenn nicht auf
einem Festival der elektronischen Künste? Diese aussergewöhnlich rare
Begegnung zwischen fröhlicher Wissenschaft und eingelöster rhizomatischer
Op- und Subversionen ist schon eine Reise wert.
PETER WEIBEL aber singt dort das Totenlied der Muse und der freien Zeit. Da
angesichts der sozialen Realität für die Meisten freie Zeit aufgrund der
faktischen Konsumbeschränkungen nicht mehr – so Weibel – aktive und
selbstbestimmte Zeit sei, siedele eine immer grössere Zahl von Zeitsklaven
im angebrochenen Zeitalter der Kronokratie im Abseits des Lebens.
Kippt Weibel mit seinem kritischen Impuls gegen die Neuverteilung der
Kräfte- und Machtverhältnisse durch gesteigerte Akkumulationen der
Zeiteffizienz nicht das Kind mit dem Bade aus, wenn er neben der
Produktionszeit nur eine Konsumzeit, nicht aber eine „Lebenszeit“ gelten
lässt? Fehlende Konsummöglichkeiten ist nicht gleichbedeutend mit Verlust an
Intensitätserfahrung (oftmals im Gegenteil). Die kritische Theorie Weibels
wird so auf dem zweiten Niveau zu einer fatalen Affirmation der Logik und
Stereotypisierung von Lebensvorstellungen und Lebensstildeutungen, wie sie
von den Zeiteffizienz-Machern geprägt werden. Leben aber ist gerade nicht
abbildbar im Koordinatensystem von Produktion und Konsumption. Es spielt
sich andernorts. Weibels Fehldiagnose ist Resultat seiner Prämisse, einen
ökonomisch geprägten Zeitbergriff allen anderen Zeit-Interpretationen
überzuordnen. Wie könnte man Weibel erklären, dass Arbeit (auch in seiner
Definition als „produktive“ Zeit im Sinne der zeiteffizienten
Geldakkumulation) verlorene Zeit ist?
Dieter Wieczorek
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