[spectre]
Habermas and Derrida call for European foreign policy to balance USA
geert lovink
geert at xs4all.nl
Mon Jun 2 10:41:36 CEST 2003
Habermas und Derrida
Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas
31. Mai 2003 Die Initiative ist bis zum letzten Moment geheimgehalten
worden: An diesem Samstag, den 31. Mai 2003, veröffentlicht eine Gruppe von
prominenten europäischen Intellektuellen ihre Vorstellungen zu einer
künftigen europäischen Außenpolitik.
Der Wortführer der Initiative, Jürgen Habermas, begründet in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung gemeinsam mit Jacques Derrida, warum gerade nach dem
Irak-Krieg, der Europas Einheit einer ungeahnten Belastungsprobe ausgesetzt
hat, jetzt der geeignete Moment gekommen ist, um die europäische Rolle in
der Welt neu zu definieren. In enger Absprache veröffentlichen gleichzeitig
andere namhafte europäische Zeitungen dazu ergänzende Texte: "Libération"
aus Paris wird auf Wunsch Derridas den gemeinsam mit Habermas verfaßten Text
dokumentieren, In der italienischen "Repubblica" wird sich Umberto Eco
äußern, in der "Neuen Zürcher Zeitung" Adolf Muschg, in "El Pais" aus
Spanien Fernando Savater, Gianni Vattimo in Italiens "La Stampa" und als
direkte Antwort auf Habermas Richard Rorty in der "Süddeutschen Zeitung".
Die F.A.Z. wird die Debatte in den nächsten Tagen fortführen, auf Vorschlag
von Habermas beginnend mit einem Beitrag des deutschen Verfassungsrechtlers
Dieter Grimm.
Der Essay von Habermas und Derrida versteht sich als Gegenvorschlag zum
"Brief der Acht" vom 31. Januar, in dem unter Führung Großbritanniens und
Spaniens acht EU-Staaten und EU-Beitrittsländer ihre Unterstützung für die
amerikanische Außenpolitik bekundet hatten. Die beiden Philosophen rufen
dagegen zu einer außenpolitischen Erneuerung Europas auf, die nicht ohne
eine attraktive kulturelle "Vision" auskomme. Die großen
Antikriegsdemonstrationen vom 15. Februar werden "als Signal für die Geburt
einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichte eingehen". FAZ.NET
dokumentiert den Beitrag von Habermas und Derrida in Auszügen.
Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas / Von Jacques Derrida und Jürgen
Habermas
Zwei Daten sollten wir nicht vergessen: nicht den Tag, an dem die Zeitungen
ihren verblüfften Lesern von jener Loyalitätsbekundung gegenüber Bush
Mitteilung machten, zu der der spanische Ministerpräsident die
kriegswilligen europäischen Regierungen hinter dem Rücken der anderen
EU-Kollegen eingeladen hatte; aber ebensowenig den 15. Februar 2003, als die
demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und
Paris auf diesen Handstreich reagierten. Die Gleichzeitigkeit dieser
überwältigenden Demonstrationen - der größten seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges - könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer
europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen.
Während der bleiernen Monate vor Ausbruch des Irak-Krieges hatte eine
moralisch obszöne Arbeitsteilung die Gefühle aufgewühlt. Die logistische
Großoperation des unaufhaltsamen militärischen Aufmarschs und die hektische
Betriebsamkeit der humanitären Hilfsorganisationen griffen wie Zahnräder
präzise ineinander. Das Spektakel vollzog sich ungerührt auch vor den Augen
der Bevölkerung, die - jeder eigenen Initiative beraubt - das Opfer sein
würde. Kein Zweifel, die Macht der Gefühle hat Europas Bürger gemeinsam auf
die Beine gebracht. Aber gleichzeitig hat der Krieg den Europäern das längst
angebahnte Scheitern ihrer gemeinsamen Außenpolitik zu Bewußtsein gebracht.
Wie in aller Welt hat der burschikose Bruch des Völkerrechts auch in Europa
einen Streit über die Zukunft der internationalen Ordnung entfacht. Aber uns
haben die entzweienden Argumente tiefer getroffen.
(...)
Die künftige Verfassung wird uns einen europäischen Außenminister bescheren.
Aber was hilft ein neues Amt, solange sich die Regierungen nicht auf eine
gemeinsame Politik einigen? Auch ein Fischer mit veränderter Amtsbezeichnung
bliebe machtlos wie Solana. Einstweilen sind wohl nur die kerneuropäischen
Mitgliedstaaten bereit, der EU gewisse staatliche Qualitäten zu verleihen.
Was tun, wenn sich nur diese Länder auf eine Definition "eigener Interessen"
einigen können? Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll, müssen diese
Länder jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der "verstärkten
Zusammenarbeit" Gebrauch machen, um in einem "Europa der verschiedenen
Geschwindigkeiten" mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik den Anfang zu machen.
Davon wird eine Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder -
zunächst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen können. Im
Rahmen der künftigen europäischen Verfassung darf und kann es keinen
Separatismus geben. Vorangehen heißt nicht ausschließen. Das
avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa
verfestigen; es muß - wie so oft - die Lokomotive sein.
(...)
In dieser Welt zahlt sich eine Zuspitzung der Politik auf die ebenso dumme
wie kostspielige Alternative von Krieg und Frieden nicht aus. Europa muß
sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die
Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten
Staaten auszubalancieren. Auf Weltwirtschaftsgipfeln und in den
Institutionen der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des
Internationalen Währungsfonds sollte es seinen Einfluß bei der Gestaltung
des Designs einer künftigen Weltinnenpolitik zur Geltung bringen.
(...)
Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für
europäische Bürger das Bewußtsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam
zu gestaltenden politischen Schicksals stiften? Eine attraktive, ja
ansteckende "Vision" für ein künftiges Europa fällt nicht vom Himmel. Heute
kann sie nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren
werden. Aber sie kann aus der Bedrängnis einer Situation hervorgehen, in der
wir Europäer auf uns selbst zurückgeworfen sind. Und sie muß sich in der
wilden Kakophonie einer vielstimmigen Öffentlichkeit artikulieren. Wenn das
Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir
Intellektuelle versagt.
Auf Unverbindliches kann man sich leicht einigen. Uns allen schwebt das Bild
eines friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen Kulturen geöffneten und
dialogfähigen Europas vor. Wir begrüßen das Europa, das in der zweiten
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarische Lösungen für zwei Probleme
gefunden hat. Die EU bietet sich schon heute als eine Form des "Regierens
jenseits des Nationalstaates" an, das in der postnationalen Konstellation
Schule machen könnte. Auch die europäischen Wohlfahrtsregime waren lange
Zeit vorbildlich. Auf der Ebene des Nationalstaates sind sie heute in die
Defensive geraten. Aber hinter die Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit, die sie
gesetzt haben, darf auch eine künftige Politik der Zähmung des Kapitalismus
in entgrenzten Räumen nicht zurückfallen. Warum sollte sich Europa, wenn es
mit zwei Problemen dieser Größenordnung fertig geworden ist, nicht auch der
weiteren Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis
des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und
voranzubringen?
(...)
Heute wissen wir, daß viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer
Naturwüchsigkeit Autorität heischen, "erfunden" worden sind. Demgegenüber
hätte eine europäische Identität, die im Licht der Öffentlichkeit geboren
würde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willkür
Konstruiertes trüge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische
Wille, der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur
Geltung bringt, ist nicht Willkür. Die Unterscheidung zwischen dem Erbe, das
wir antreten, und dem, welches wir zurückweisen wollen, verlangt ebensoviel
Umsicht wie die Entscheidung über die Lesart, in der wir es uns aneignen.
Historische Erfahrungen kandidieren nur für eine bewußte Aneignung, ohne die
sie eine identitätsbildende Kraft nicht erlangen.
(...)
In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den
Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives
Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von
Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen Überlieferungen ein
solidaristisches, auf gleichmäßige Versorgung abzielendes Ethos des Kampfes
für "mehr soziale Gerechtigkeit" gegen ein individualistisches Ethos der
Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in
Kauf nimmt.
Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalitären Regime des
zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust - die Verfolgung und
Vernichtung der europäischen Juden, in die das NS-Regime auch die
Gesellschaften der eroberten Länder verstrickt hat - gezeichnet. Die
selbstkritischen Auseinandersetzungen über diese Vergangenheit haben die
moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen. Eine erhöhte
Sensibilität für Verletzungen der persönlichen und der körperlichen
Integrität spiegelt sich unter anderem darin, daß Europarat und EU den
Verzicht auf die Todesstrafe zur Beitrittsbedingung erhoben haben.
Eine bellizistische Vergangenheit hat einst alle europäischen Nationen in
blutige Auseinandersetzungen verstrickt. Aus den Erfahrungen der
militärischen und geistigen Mobilisierung gegeneinander haben sie nach dem
Zweiten Weltkrieg die Konsequenz gezogen, neue supranationale Formen der
Kooperation zu entwickeln. Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union hat
die Europäer in der Überzeugung bestärkt, daß die Domestizierung staatlicher
Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung
souveräner Handlungsspielräume verlangt.
Jede der großen europäischen Nationen hat eine Blüte imperialer
Machtentfaltung erlebt und, was in unserem Kontext wichtiger ist, die
Erfahrung des Verlusts eines Imperiums verarbeiten müssen. Diese
Abstiegserfahrung verbindet sich in vielen Fällen mit dem Verlust von
Kolonialreichen. Mit dem wachsenden Abstand von imperialer Herrschaft und
Kolonialgeschichte haben die europäischen Mächte auch die Chance erhalten,
eine reflexive Distanz zu sich einzunehmen. So konnten sie lernen, aus der
Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern
wahrzunehmen, die für die Gewalt einer oktroyierten und entwurzelnden
Modernisierung zur Rechenschaft gezogen werden. Das könnte die Abkehr vom
Eurozentrismus befördert und die kantische Hoffnung auf eine
Weltinnenpolitik beflügelt haben.
--
Den vollständigen Beitrag von Jürgen Habermas und Jacques Derrida lesen Sie
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Samstag, den 31. Mai 2003
(www.faz.net).
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