[rohrpost] Buch-Empfehlung: KALTLAND ( #NSU #Rechtsextremismus
#Nazis )
Krystian Woznicki
kw at berlinergazette.de
Mit Nov 30 10:44:14 CET 2011
Buch-Empfehlung: KALTLAND ( #NSU
<https://plus.google.com/b/105282900469532082343/s/%23NSU>
#Rechtsextremismus
<https://plus.google.com/b/105282900469532082343/s/%23Rechtsextremismus>
#Nazis <https://plus.google.com/b/105282900469532082343/s/%23Nazis> )
"Kaltland" versteht sich als Sammlung literarischer Texte, Erinnerungen,
Berichte und Reflexionen zu den frühen 90er Jahren, als kurz nach der
sogenannten "Wiedervereinigung" Asylbewerberheime in Deutschland
brannten, Politiker von einer "Asylantenflut" fabulierten, der völkische
Pöbel Wahn in die Realität von Gewalt verwandelte und Orte wie
Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen plötzlich europaweit bekannt
wurden. Eine Sammlung "wider das Vergessen" will der Band sein, gemessen
am deutschen Erinnerungskultur-Mainstream ist er eine Sammlung "nach dem
Vergessen".
In der "Erfolgsgeschichte Deutschland", im 90er Jahre TV-Rückblick, beim
"Montagsdemo-Revival", im Kino, das sich lieber der RTL-Version der RAF
widmet oder im literarischen Subgenre "Wenderoman" ist kein Platz für
die Opfer der Gewalt: "Die massiven Angriffe auf Asylbewerberheime in
Hoyerswerda (1991) und Rostock (1992) waren [...] nur die Spitze des
Eisbergs. Umso bizarrer mutet es an, dass man diesen Themenkomplex in
den bislang erschienenen Romanen und Erzählbänden über die Wende- und
Nachwendezeit meist vergeblich sucht." Kaltland berichtet also von dem,
was Griffith (noch affirmativ) die "Geburt einer Nation" nannte: "In den
Jahren nach 1989 wurde aus [...] [dem] staatsgemeinschaftlichen >>Wir<<
ein völkischer Kampfbegriff, und nach Vollzug der staatlichen Einheit
konstituierte sich die völkische Einheit über brennende
Asylbewerberheime, Menschenjagden und Morde in beiden Teilen Deutschlands."
Dabei ging es nicht nur um eine Handvoll gewaltbereiter Jugendlicher
oder Berufsnazis. Nein, daneben stand johlend, schimpfend und feiernd
ein Heer deutscher Normalbürger mit "gesundem Volksempfinden". Als ich
mir nach Jahren bei den ersten Skizzen zu dieser Rezension noch einmal
einige Aufnahmen der Fernsehberichte zwecks Gedächtnisüberprüfung
anschaue, fällt mir das obsessive Gerede dieser Zeugen- Mittäter auf --
ihr Diskurs kreist in aller Berechenbarkeit allein um den Terror der
deutschen Sauberkeits- und das heißt auch Körperphantasien: die
"Ausländer" und "Asylanten" sind "dreckig" und "schmutzig", sie
"scheißen überall hin", sind eine "Flut" usw. usf., also "müssen" ihre
Wohnungen brennen. Es ist nicht notwendig Anhänger der Theweleit'schen
Theorien bzgl. des deutschen Institutionenkörpers und dessen tödlicher
Politik der Körperlichkeit zu sein, Plausibilität erlangen sie hier
dennoch, schlagartig.
Den Großteil, der in "Kaltland" versammelten Texte stellen Erinnerungen,
Rückblicke und Erfahrungsberichte dar, die diese Zeit des Übergangs und
des reaktionären Backlashs noch einmal Revue passieren lassen oder in
kurzen Anekdoten vergegenwärtigen. Manche Autoren wählen einen
persönlicheren Zugang, manche einen literarischeren, manche wiederum den
Stil der Reportage oder des nüchternen Protokolls. Obwohl dabei manches
eher privatim wirkt, der ein oder andere Schreibstil vielleicht eher
glättet als konkretisiert, ergibt sich aus der Vielzahl der Beiträge bei
kontinuierlicher Lektüre ein Mosaik aus Erinnerungs-, Erlebnis- und
Erfahrungssplittern dieser Jahre. Signifikanz erhalten die einzelnen
Texte durch die Konstellationen, welche sie eingehen, denn erst in
diesen Konstellationen zeichnet sich das Ausmaß der gemeindeutschen
Gedächtnislücken ab.
In ihrem Aufsatzband "Gefährdetes Leben" fragt Judith Butler "Was macht
ein betrauernswertes Leben aus?" und forscht zugleich nach dem
Zusammenhang von Dehumanisierung und der Freigabe von Menschen zur
Gewalt. Kaltland markiert in und zwischen seinen Beiträgen Teile dieser
politischen, medialen und sozialen Prozesse der Dehumanisierung, die
nach den Bränden kein Ende fanden. Die damalige Verschärfung des
Asylrechts war das juristisch-politische Ausrufezeichen hinter den
Fußtruppen des Volks und der Nation. "Ohne rassistische Gewalt kein
neues Deutschlandgefühl, das sich zuerst in den Lichterketten geregt
hat. Und ohne >>Druck von der Straße<< keine Legitimation für die
Politik, das Grundgesetz so zu verändern, dass Deutschland heute von
>>sicheren Drittstaaten<< umzingelt ist und gezielt selektieren kann,
wer rein darf und wer zurückgeschickt wird [...]" -- so formuliert es
einer der Beiträger (Alexander Karschnia). Insofern ist Kaltland ein
Beitrag zur Gegenwart, ein Stück Genealogie.
KALTLAND.
KARSTEN KRAMPITZ, MARKUS LISKE, MANJA PRÄKELS (Hg.):
[Brosch., 287 S., Berlin 2011, Rotbuch, 14,95EUR]
http://www.rotbuch.de/programm-3/titel/1147-Kaltland.html
<http://www.rotbuch.de/programm-3/titel/1147-Kaltland.html>
Die Rezension wurde von Michael Wehren verfasst und erschien in testcard
http://www.testcard.de/titel.php?pid=1303