[rohrpost] REV-CONF: Blick im 21. Jahrhundert (Veigl)

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Mit Mar 18 11:27:51 CET 2009


"Blick im 21. Jahrhundert". Zweite internationale  
bildwissenschaftliche Konferenz 'Göttweig08', Donau-Universität Krems,  
Department für Bildwissenschaften, 16.-18. Oktober 2008

Tagungsbericht von Thomas Veigl  


Die wachsende Zahl neuer technischer und sozialer Möglichkeiten,  Bildmaterial zu produzieren und zu verbreiten - von YouTube, über  Flickr bis zum virtuellen Raum - wird zunehmend mit der Forderung nach  einer Stärkung visueller Kompetenzen verbunden. Vor diesem Hintergrund  diente die Konferenz "Blick im 21. Jahrhundert" einer Bestandsaufnahme, Klassifizierung und Historisierung der neuesten Bildwelten in den Sphären der Öffentlichkeit, von Kunst und Entertainment sowie den Naturwissenschaften. Hierzu führte sie amerikanische Experten der Bildwissenschaften, wie Felice Frankel, Barbara Stafford oder Michael Naimark mit deutschsprachigen Vertretern, wie Marie-Luise Angerer, Oliver Grau oder Nikolay van der Meulen zusammen.

Praktiken des kollektiven Schreibens, wie sie am prominentesten Hypertext des Internets, der Wikipedia, sichtbar werden, revolutionierten innerhalb einer Dekade den über Jahrhunderte gefestigten Stand von Autorenschaft, Stil und ästhetischer Form. Vergleichbare Entwicklungen stellte der Berliner Journalist und Fotograf Stefan Heidenreich für die Welt des elektronischen Bildes fest. YouTube und Flickr stehen stellvertretend für eine neue Form des kollaborativen visuellen Prozesses, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Transformationen, die dies im Bereich des Urheberrechts, in den Institutionen der Kunst, in der populären Kultur und der Wirtschaft nach sich ziehen, scheinen noch unklar. In der Diskussion sah man jedoch auch Chancen einer zunehmenden Demokratisierung der  
Bildpolitik. Diese Offenheit erfordert jedoch auch eine zunehmende Kritikfähigkeit und Sensibilität im Umgang mit visuellem Material.

Trotz dieses fundamentalen Wandels in der Welt der Bildproduktion, der von den professionellen bis in die privatesten Bereiche hin erkennbar ist, hinkt die gesellschaftliche Rezeption diesen Entwicklungen hinterher. Felice Frankel, Integrationsfigur der nordamerikanischen Bildwissenschaften und Gründerin der "Image and Meaning"-Initiative,  
forderte daher eine Intensivierung des Dialogs zwischen Natur- und Kulturwissenschaften, Designern und Künstlern, um die Wirkung und Funktion der Bilder in der Re-Präsentation von Wissenschaft deutlicher zu kennzeichnen. Viele Visualisierungen, die in den geistigen Kanon heutiger Gesellschaften eingegangen sind, wie das Atommodell,  
entsprechen nicht dem Stand der Forschung und vermitteln ein falsches Bild. Hier setzt die an der Harvard University verankerte Initiative an, und entwickelt gemeinsam mit Wissenschaftlern, Journalisten, Grafikern und Designern neue Methoden zu visueller Repräsentation abstrakter Inhalte und einer verbesserter Kommunikation in die Öffentlichkeit. [1]

Wie eng Bildpolitik und Kulturpolitik zusammenhängen zeigte Oliver Grau, Professor für Bildwissenschaften an der Donau-Uni Krems. Medienkunst, "die" zeitgenössische Kunstform schlechthin, werde immer noch kaum von Museen gesammelt, sei nicht in angemessener Form an den Universitäten angekommen und für eine nicht nordwestliche  
Öffentlichkeit nahezu unzugänglich. Es drohe, so Grau, die Auslöschung dreier Dekaden Kunstschaffens aus dem kulturellen Gedächtnis. [2] Er plädierte für die Schaffung einer Enzyklopädie visueller Medien, die ähnlich den großen Kartierungsprojekten in den Naturwissenschaften, wie dem Human Genome Project, die Geschichte des menschlichen Sehens und sein Verhältnis zur Evolution der Bildmedien verstehbar macht. Mit dem Verlust zeitgeschichtlichen Materials beschäftigte sich auch der Berliner Bildwissenschaftler Jan Henselder, der biographische Interviews über die NS- und DDR- Vergangenheit digital archiviert und für zukünftige Generationen bereitstellt. [3] Hierzu werden  
Interviewsequenzen mit korrespondierendem Kartenmaterial verlinkt, um so eine "Topographie der Erinnerung im virtuellen Raum" zu schaffen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Konferenz war die Frage nach dem Erkenntnisgewinn durch technologische Visualisierungsverfahren für den naturwissenschaftlichen Bereich. So demonstrierten die Mediziner  
Dolores und David Steinman von der Universität Toronto aus ihrer Praxis, dass die meisten Bilder, die Krankenhausärzte heute zu Gesicht bekommen computergenerierte Interpretationen von Patientendaten seien.  
Organische Prozesse sowie die Dynamik von Blutlaufbahnen entziehen sich der menschlichen Anschauung, was computergestützte bildgebende Verfahren für zeitgerechte Diagnose und Therapie unverzichtbar mache.  
Die Herausforderung bestehe allerdings in der Integration wissenschaftlicher Wahrheit, ästhetischer Trends und etablierter wissenschaftlich-medizinischer Konventionen. Es sind heute hauptsächlich Mediziner, die Entscheidungen darüber treffen, wie die digitalen Messwerte visuell dargestellt werden. [4] Dieses bedingt, in vielen Fächern, die den Umgang mit Bildern nicht gewohnt sind, bzw. deren Ausbildung das Phänomen Bild nicht thematisieren, einen eher  
naiven Umgang mit den neuen Bildformen, so die Organisatoren der Konferenz. Die Diskussion unterstrich einmal mehr die Notwendigkeit bildwissenschaftlicher Kompetenzen für den, durch technologische Visualisierungsverfahren stark beeinflussten, naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.

Nicolay van der Meulen, Bildwissenschaftler und Professor für Kunstgeschichte in Basel, plädierte daher für eine angewandte Bildforschung. Diese solle nicht nur die Repräsentation, sondern auch die Generierung von Wissen durch visuelle Entwürfe und experimentelles Design, das dem Erkenntnisgewinn dient, behandeln. Ein webbasiertes,  
digitales Medium für die bildorientierte Forschung wurde in diesem Zusammenhang von Martin Warnke, Leiter des Rechenzentrums an der Universität Lüneburg, vorgestellt. "HyperImage" [5] erfüllt die seit langem bestehende Forderung, visuelle Formen nicht semiotisch zu behandeln. Beobachtungen an Bildern können so ohne vorherige  
Verbalisierung, sozusagen ohne die Assimilierung des Sichtbaren an das Lesbare , markiert, geordnet, publiziert und wissenschaftlich weiter verwertet werden. [6]

Bereits zu Beginn der Konferenz fächerte der amerikanische Medienkünstler Michael Naimark die Bildentwicklung von Google Earth auf: Ungeachtet der Versprechen virtueller Realität sind viele in den letzten Jahren entstandenen Applikationen, aufgrund des Mangels an Kombinationen aus fotorealistischen und interaktiven Eigenschaften nicht im Stande, den Rezipienten so zu involvieren, dass die Illusion des Ortes spürbar wird. Harald Krämer, Universitätsdozent und Medienproduzent, sah Verbesserungsbedarf bei der Dramaturgie von Internetseiten. Der Rezipient solle durch ein Gefühl von Solidarität und Empathie eingebunden werden, welches durch einen holistischen Ansatz aus der Symbiose von Content, Navigation und Design erreicht werden kann.

Die Rektorin der Kunsthochschule für Medien in Köln, Marie-Luise Angerer, integrierte die vorgebrachten Problembereiche unter dem Titel der affektiven Adressierung des Rezipienten digitaler Medien. [7] Die Diskussion affektiver und emotionaler Adressierungen findet aktuell breiten Boden, was, interdisziplinär praktiziert, zu einer Politik des Affektiven führen kann und soll. Eine weitere Ebene brachte Barbara Stafford von der Universität Chicago in die Diskussion ein. Die Soziale-Gedächtnis-Hypothese sieht eine Bedingung für den Aufrechterhalt gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Koordinierung von individueller Bedürfnisbefriedigung und intersubjektiven Verhalten. Zur Klärung der Funktionsweise dieser "gesellschaftlichen Synchronisierung" plädierte sie für einen verstärkten Bezug auf Aspekte assoziativer Kunst, in historischen und neuesten Bildwelten, und spannte den Bogen von antiken Hieroglyphen bis zu hybriden Kollagen.

Als Ergebnis der Konferenz kann festgehalten werden, dass die Hauptherausforderung zur Einlösung bildpolitischer  
Demokratisierungschancen unserer Zeit im weiteren Ausbau visueller Kompetenzen seitens der Rezipienten wie auch der Produzenten neuer Bildwelten und digitaler Archivierungsprojekte liegt. Der Dialog zwischen Künstlern, Geistes- und Naturwissenschaftlern bietet hierfür die notwendige Plattform, von der aus Bildkompetenz weiterentwickelt werden kann, um über die Ausbildungs- und neuen Forschungs- und Lehrinstrumente in möglichst weite Bereiche unserer Gesellschaft zu wirken.

Um diesem Anspruch jedoch nachkommen zu können scheinen Investitionen in die Bereiche Errichtung und Betrieb digitaler Archive sowie Sicherstellung und Ausbau bereits geschaffener, adäquater Lehrangebote unerlässlich. Mit Règis Debray gesprochen, bedingt das geeignete kulturelle Milieu die Möglichkeit der Übertragung medialer Inhalte, und hier neuer, essenzieller Kulturtechniken. [8]

Eine Publikation der Ergebnisse ist in Vorbereitung. Die Fortsetzung der Konferenzserie in Göttweig ist für 2010 geplant.


Redaktion: Godehard Janzing

Anmerkungen:
[1] URL: www.imageandmeaning.org .
[2] Vgl. Oliver Grau: Media Art Histories, Cambridge, Mass. 2007.
[3] URL: www.zwangsarbeit-archiv.de .
[4] Vgl. Felice Frankel: Envisioning Science. The Design and Craft of  
the Sciene Image, Cambridge, Mass. 2003.
[5] URL: www.hyperimage.org .
[6] Vgl. auch Règis Debray: Jenseits der Bilder, Rodenbach 1999.
[7] Vgl. auch Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt,  
Zürich/Berlin 2007.
[8] Règis Debray: Einführung in die Mediologie, 2003.
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