[rohrpost] Globalisierungskritik, wie weiter?

Krystian Woznicki kw at berlinergazette.de
Mit Jun 4 14:56:01 CEST 2008


Guten Tag,

vor einem Jahr lancierte die Berliner Gazette die Umfrage >Globalisierungskritik,
wie weiter?<. Alles begann mit einem Eintrag im Logbuch der Berliner Gazette,
gefolgt von Postings auf diversen Mailinglisten, Briefen an Schluesselfiguren der
Bewegung uvm. Der G8-Gipfel in Heiligendamm stand vor der Tuer und in der Berliner
Gazette waren dazu bereits einige Beitraege erschienen. Nun aber galt es eine
weitreichende Auseinandersetzung anzuregen, die die kurze Gluehphase des Gipfels
ueberdauern wuerde. So begann die Berliner Gazette am 31.05.2007 jeden Montag eine
Antwort auf die Frage >Globalisierungskritik, wie weiter?< zu veroeffentlichen.
Inzwischen konnten fast 50 Antworten zusammengetragen werden. 
Gebuendelt werden sie hier:  http://www.berlinergazette.de/?cat=8

Zunaechst befragte die Redaktion Akteure aus dem [Um]Feld des Gipfel-Protests:
AktivistInnen, StudentInnen, KuenstlerInnen, Politik- und
MedienwissenschaftlerInnen, FriedensforscherInnen und JournalistInnen. Darauf hin
wurde das Feld geoeffnet: Vertreter und Initiatoren der Global Studies aus Hamburg,
Freiburg, Innsbruck und Graz wurden hinzugezogen. Selbst disziplinaere Erneuerungen
wie Globalgeschichte konnten bei der Frage nach der Globalisierungskritik
beruecksichtigt werden. Damit rueckte nicht nur die Universitaet als Lern-, Lehr-
und Forschungsstaette ins Blickfeld, sondern auch die Schule. Beispielsweise kam
mit Heike Roth [Antwort #33] auch eine Lehrerin zu Wort, die gemeinsam mit
KollegInnen in Baden-Wuerttemberg Global Studies als Schulfach eingefuehrt hat. 

Ganz im Sinne der grossen, alles umfassenden Expansionsbewegung der Globalisierung,
bemueht sich die Berliner Gazette den Einzugsbereich dieser Umfrage immer weiter zu
oeffnen. Nicht nur geografisch [bislang konnten Stimmen aus Mexiko, England und
den USA eingefangen werden], sondern auch intellektuell: Es werden Akteure zu
Stellungnahmen eingeladen, die nicht unmittelbar an Globalisierungsdiskursen
arbeiten. ArchitekturtheoretikerInnen, MigrationsforscherInnen, EthnologInnen,
GeographInnen; aber natuerlich auch engagierte Zeitgenossen ausserhalb akademischer
oder aktivistischer Zirkel. 
 
Wir glauben, dass es wichtig ist, Gedanken einfliessen zu lassen, die aus einer
Aussenperspektive heraus entstehen. Doch gibt es so etwas wie Aussenperspektiven
ueberhaupt noch? Durchdringt die Globalisierung als komplexester gesellschaftlicher
Prozess der Gegenwart nicht ausnahmslos alle? 

Die entscheidende Frage, die sich nach einem Jahr von Neuem und inzwischen auch auf
neue Weise stellt, lautet: Was bedeutet eigentlich Kritik in diesem Zusammenhang?
Klar sollte sein: Kritisieren bedeutet nicht Schlechtmachen oder Ablehnen. Wie auch
Literaturkritik nicht die Aufgabe hat, einen Text >runterzumachen<, sondern einen
kritischen Zugang zu ihrem Gegenstand zu eroeffenen, so ist man auch als
Globalisierungskritiker keineswegs Globalisierungsgegner. Als
Globalisierungskritiker affirmiert man die Globalisierung. Das bedeutet: Man
erkennt sie als Prozess, Phaenomen und Problem an, um auf dieser Basis aktiv zu
werden. Im Kopf oder mit Taten. 

Aber welche Kategorien sind fuer die Globalisierungskritik von Bedeutung? Sollte
man immer wieder ueber dieselben Probleme sprechen oder vielleicht versuchen die
grossen Fragen neu anzugehen, mit einem neuen kritischen Zugang, den die
Globalisierungskritik eroeffnet? Sollte die Aufgabe der Globalisierungskritik
vielleicht gerade darin bestehen, Fragen zu stellen? Fragen, die die
Globalisierung in Frage stellen. Fragen aber auch, die das Befragen der
Globalisierung selbst in Zweifel ziehen. Alles in allem scheint die Aufgabe darin
zu bestehen, eine reflektierte Praxis zu kultivieren, mit Blick auf einen
jahrhundertealten Prozess, im Zuge dessen auf der Erde wirtschaftliche, politische
und kulturelle Netzwerke unaufhoerlich wachsen und in letzter Zeit immer staerker
miteinander querverbunden werden. 

Inzwischen, da der G8-Gipfel in Japan bevorsteht, rueckt nicht zuletzt die Frage
danach in den Fokus der Umfrage, wie wir uns Ereignissen auf der anderen Seite der
Welt eigentlich naehern. Erinnert uns der G8-Gipfel in Japan daran, dass wir
Globalisierung in erster Linie als TV-Veranstaltung erleben? Oder vielleicht als
Kluft zwischen Medien- und unmittelbarer Alltagsoberflaeche? Oder doch eher als
lokale Entladung von Fernwirkungen? Die Globalisierung bietet keinen einheitlichen
Erlebnishorizont. Radikaler noch als andere Prozesse, fuehrt sie uns vor Augen,
dass das Gemeinsame gerade in den Unterschieden, die wir teilen, zum Vorschein
kommt. Deshalb sollte man den G8 Gipfel in Japan nicht verstreichen lassen, ohne
die Frage nach der Zukunft der Globalisierungskritik nochmals nachdruecklich zu
stellen. 

Die Redaktion der Berliner Gazette freut sich ueber Gegenfragen, Anregungen,
Leserbriefe und Beitraege zu diesem Thema. Ueberaus willkommen sind natuerlich
Stellungnahmen zu den aufgeworfenen Fragen, die fuer eine Veroeffentlichung im
Rahmen der Umfrage vorgesehen sind. Solche Stellungnahmen sollten wenigstens 1.800
Zeichen lang sein. Andere Rahmenbedingungen? Vielleicht sollte man vorher die
bisherigen Beitraege gelesen haben. Erschienen sind sie, darauf sei nochmals
hingewiesen, hier: http://www.berlinergazette.de/?cat=8

Bleiben Sie dran!

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