[rohrpost] Wikipedia, die Künste - und Probleme
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Jan 6 17:04:46 CET 2006
Die Wikipedia, insbesondere ihre deutschsprachige Version, erlebe ich
zur Zeit wieder einmal als eine unfreundliche Umgebung für Artikel zu
Künstlern und Kunstthemen abseits des Mainstreams. (Siehe
<http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:L%C3%B6schkandidaten/6._Januar_2006#Graf_Haufen>.
Mein Artikel über den Experimentalfilmer Georg Ladanyi wurde gestern
wegen enzyklopädischer Irrelevanz sowie des Verdachts, es handele sich
um eine fiktive Person, deren IMDB-Eintrag
<http://imdb.com/name/nm1561228/> ich gefälscht hätte, gelöscht.)
Häufiges K.O.- bzw. Verdachts-Kriterium für die
Wikipedia-Administratoren sind fehlende Einträge zu einer Person in der
Personennamendatei der Deutschen Bibliothek <http://dnb.ddb.de/>. Die
offiziellen Wikipedia-Richtlinien für die enzyklopädische Revelanz einer
lebenden Person bzw. von Künstlern
<http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Relevanzkriterien> lauten sogar:
"- Weit anerkannte Unterhalter und Meinungsmacher
- Wohlbekannte Personen aus der Unterhaltungsbranche, wie Fernseh- und
Filmproduzenten, Regisseure, Schriftsteller, Schauspieler mit
Hauptrollen oder mehreren Nebenrollen in kommerziell vermarkteten
Werken mit einem Gesamtpublikum von 5000 oder mehr
- Autoren, Editoren und Fotografen, deren Werke in Büchern oder
Zeitschriften mit einer Auflage von 5000 oder mehr publiziert wurden
- Musiker, die mehr als 5000 Alben, CDs oder ähnliche Tonträger verkauft
haben
- Maler, Bildhauer, Architekten, Ingenieure und andere Künstler, deren
Werk als herausragend anerkannt ist und wahrscheinlich dauerhaft Teil
der Geschichte des spezifischen Gebietes wird."
Auch wenn diese Kriterien nur als Richtlinien dienen und in der
Praxis nicht streng eingehalten werden, liefern sie ein
Blanko-Totschlagsargument für faktisch jeden Artikel zu experimenteller
zeitgenössischer Kunst.
Erschwerend hinzu kommt, daß Artikel laut Wikipedia-Policy keine
Originalforschung bzw. -information enthalten dürfen, sondern sich auf
reputable Quellen, i.d.R. Buch- bzw. Druckpublikationen stützen müssen
<http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Verifiability>. Dies ist zwar
ein völlig nachvollziehbares Merkmal einer Enzyklopädie, aber wiederum
ein K.O.-Kriterium für viele, wenn nicht die meisten Artikel abseits von
Mainstream-Themen.
Meine Erfahrung ist, daß man starke Nerven und viel geduldige Diplomatie
braucht, um solche Artikel durchzusetzen. Es ist auf die Dauer ermüdend,
für Beiträge doppelten Arbeitsaufwand und doppelten Energieeinsatz
einkalkulieren zu müssen, wenn sie anschließende Diskussionen in den
Löschantrags- und Qualitätssicherungsforen nach sich ziehen. - Wobei es,
wie schon angedeutet, Mentalitätsunterschiede zwischen dem "free
speech"-Ethos der anglophonen und der (salopp gesagt) spießigeren
deutschsprachigen Wikipedia-Community gibt.
Die Frage ist, ob man eine experimentelle Parallel-Wikipedia gründen
sollte - vor allem, aber nicht nur zu den Künsten -, die ohne diese
redaktionellen Einschränkungen arbeitet. Tommaso Tozzi betreibt bereits
ein solches Projekt auf Italienisch als <http://www.wikiartpedia.org>,
wie ich finde, jedoch in suboptimaler Form: Das Wiki enthält praktisch
keine Lexikonartikel, sondern ist eine lose Sammlung diverser ins
Italienische übersetzte Netzkunst-Aufsätze, die ohne Wiki-Formatierung
in die Seiten kopiert wurden. Außerdem steht es unter einer Creative
Commons-Lizenz, die es rechtlich verunmöglicht, Artikel und Textteile
mit der (unter der GNU Free Documentation License stehenden) offiziellen
Wikipedia auszutauschen. Wenn man schon ein Wikipedia-Korrektiv
gründet, sollten sein Inhalt auch einmal in die Wikipedia einfließen
können.
Die zweite Frage ist, ob eine alternative Wikipedia ohne
Administratoren und Löschanträge nicht in einen anderen Nervenkrieg
ausartet. Wiki-Spam, Trolls, Flamewars und Selbstdarsteller können das
Projekt zwar interessanter und lebendiger machen, sind aber genauso
problematisch wie engstirnige Administratoren, sobald sie die
Plattform majorisieren, Artikel rücksichtslos überschreiben und
anderen Leuten damit die Lust an der Mitarbeit verderben. Vielleicht ist
daher ein System wie das (im Vergleich zur Wikipedia trotzdem
anarchischere, assoziativere und lustigere) <http://www.everything2.com>
besser, in dem eingestellte Texte nicht umgeschrieben, sondern nur um
neue Texte ergänzt werden können.
- Dies ist mein etwas ratloser Nachtrag zu einer Debatte über
(Medien)künste in der Wikipedia, die auf der letztjährigen
transmediale begonnen und gelegentlich auch in der Nettime-Liste geführt
wurde.
-F
--
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