[rohrpost] DATABASE OF VIRTUAL ART : NEW THESAURUS [u]

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Sam Jun 11 15:00:38 CEST 2005


Am Samstag, 11. Juni 2005 um 09:46:11 Uhr (+0200) schrieb Oliver Grau:
 
> In unserem kleinen DFG-Projekt (1 WM, 4 Hiwis), 
> dass zunaechst der Groesse der IMMERSION in Kunst 
> und Medien gilt, gelang es auf der Basis des von 
> uns entwickelten Dokumentationssystems 
> erfreulicherweise eine Doku der digitalen, 
> installativen, interaktiven und IMMERSIVEN Kunst 
> aufzubauen. 

Auf der Homepage <http://virtualart.hu-berlin.de> steht:

|  The Database of Virtual Art documents the rapidly evolving field of
|  digital installation art. 

Soweit klar, und genau darüber wurde hier diskutiert.

|  This complex, research-oriented overview of
|  immersive, interactive, telematic and genetic art 

Man darf annehmen, daß bei diesem Satz keine Logiker am Werk waren und
die Kommata bzw. das "and" nicht als Boolesches "und", sondern als
"oder" zu lesen sind, denn kaum eine der verzeichneten Arbeiten dürfte
immersiv UND interaktiv UND telematisch UND genetisch sein.

Nach dem, was Du oben leicht genervt schreibst, müßte das Projekt eben
nicht "Database of Virtual Art" heißen (ein Name, der sowieso unsinnig
ist, weil jede Kunst ["ars"] per definitionem virtuell ist, sich nämlich
einer "virtus" verdankt), auch nicht "[Database of] digital installation
art", wie die Unterzeile präzisiert, sondern "Database of immersive and
interactive digital installation art". 

Und selbst dann wären noch erhebliche Fragezeichen angebracht. Warum
etwa fehlt in der Datenbank das gesamte Genre künstlerischer
3D-Computerspiel-Modifikationen, also z.B. die Arbeiten von Joan Leandre
(retroyou), Amy Alexander (B0timati0n), eben auch jodi (SOD, Untitled
Game) sowie die "Nybble Engine" von Jahrmann/Moswitzer? 

Man könnte weitergehen und fragen, was überhaupt mit "immersiv" gemeint
ist. Für mich selbst z.B. gibt es keine radikalere Immersion in den
Computer und auch keine konsequentere Interaktion, als das
Programmieren. So gesehen, gäbe es nicht immersiveres als Jodis
2003 in Malmö gezeigte Installation "10 Programs written in BASIC
©1984". Wenn solch eine Arbeit sich für die "Datenbank" disqualifiziert,
dann wohl, weil dem Projekt eine speziellere Definition von Immersion
als _visueller_ Immersion zugrundeliegt. 

Ähnliches gilt für Interaktivität, ein Begriff, mit dem Medienindustrie,
-theorie und -kunst in den letzten 15 Jahren konsequent Schindluder
getrieben haben, in dem sie ihn auf schlichte Reiz-/Reaktionsschemata in
deterministisch programmierten Systemen bzw. black boxes reduziert
haben, (anthropologische) Interaktion also auf kybernetische
Rückkoppelung. Interaktiv wäre ein System nur dann, wenn sein Nutzer
auch seine Parameter, d.h.  sein Programm verändern könnte; eine
Erkenntnis, die die allgemeine Systemtheorie schon in den 1940er Jahren
formuliert hat. 

Man müßte also "immersive und interaktive Installationskunst"
präzisieren zu "Kunst visuell immersiver Rückkoppelungssysteme in
physisch begehbaren Räumen". Was bescheidener klingen würde als
"Datenbank der virtuellen Kunst" oder "Datenbank digitaler
Installationskunst".  Und selbst dann noch nicht begründen würde,
weshalb das Projekt faktisch nur eine bestimmte Form und Schule
institutioneller Hightech-Installationskunst dokumentiert, s.o..

Würde ich als Literaturwissenschaftler eine "Datenbank der digitalen
Lyrik" betreiben, ihr Gebiet irgendwo im Untertitel, unter einer Reihe
von Attributen versteckt, noch auf "programmierte Poesie" einschränken
und schließlich in die Datenbank selbst nur Arbeiten eintragen, die
meinen Forschungsinteressen entsprechen, also Oulipo-Dichtung und
Code Poetry z.B., und ganze Gebiete auslassen, die mich wegen meiner
ästhetischen Präferenzen weniger interessieren, etwa die gesamte nicht
minder digitale und programmierte audiovisuelle Multimediapoesie, müßte
ich mich über Kritik nicht wundern, erst recht nicht, wenn ich diese
Datenbank als wissenschaftliches Projekt betreiben würde.  Ich würde das
Label "Datenbank der digitalen Lyrik" und den Status des
Forschungsprojekts dazu verwenden, eine bestimmte Lesart und einen
extrem selektiven Kanon digitaler Lyrik durchzusetzen.  Es wäre dann
angebracht, die Website "Datenbank Oulipo und Codepoetry" zu nennen, ihr
einen assoziativen Fantasienamen wie z.B.  "www.patacode.org" zu geben
oder sie gleich als floriancramer.org laufen zu lassen.

> Aufgrund der Versaeumnisse der letzten Generation 
> von Konservatoren und Museumsleuten und einer 
> leider hier und da immer noch bestehenden 
> ueberheblichen Einstellung von Vertretern unserer 
> Generation, der die Erhaltung der Kunst unserer 
> Zeit einerlei ist, hat sich eine Situation 
> aufgebaut, die bedeutet, dass wir, bedingt durch 
> den Wandel der Speichermedien, die Kunst der 
> letzten Jahrzehnte verlieren. Arbeiten die vor 10 
> Jahren entstanden, sind in der Regel heute nicht 
> mehr zeigbar.

Das ist in der Tat ein ernster Punkt, und es ist, um mal zu unserer
Diskussion vor mehreren Jahren zurückzukehren, immer noch bezeichnend,
daß ein universitäres Forschungsprojekt mit DFG-Forschungsmitteln eine
typische Museums-Aufgabe wahrnehmen muß.

Es wundert mich z.B., daß auf Netzkunst-Mailinglisten Apples Wechsel auf
Intel-Hardware noch nicht diskutieren worden ist, mit dem die sog.
"Classic-Umgebung" über Bord geht und mit ihr auch sämtliche
künstlerischen Arbeiten, die in den 90er Jahren auf der Basis von MacOS
7/8/9 entwickelt wurden.

-F
-- 
http://cramer.netzliteratur.net