[rohrpost] Was ist Emanzipation? - Brief an meinen Freund Gusztáv Hámos
Till Nikolaus von Heiseler
Till_N_v_Heiseler at web.de
Son Jan 30 20:07:46 CET 2005
WAS IST EMANZIPATION?
"Der Konservative braucht keine Theorie. Wem die Welt gehört, dem genügen als
Ornament an seinem Besitzstand ein wenig ideologischer Kitsch, den ihm die Massenmedien,
und ein bisschen affirmatives Gequatsche, das ihm die Universitäten ins Haus liefern.
Wem wie dem Linken die Welt nicht gehört, wer wie der Linke die Welt, wie sie ist,
gar nicht haben, sie hingegen verändern will, für den ist Theorie die Welt."
(Michael Scharang)
Lieber Gusztáv,
auf der Eröffnung der hack.it.art Ausstellung hast du mich gefragt, was „Emanzipation“ denn
eigentlich heißen soll. Ständig, so sagtest du, sei von Emanzipation die Rede. Dabei wüsstest du
gar nicht, sagtest du spöttisch, was das denn sein soll.
Ich hatte gesagt, dass ich das nicht in wenigen Sätzen beantworten könne, dass der Begriff sich
aber sicherlich auf Herrschaft beziehe. Das klang ein wenig so, als wenn ich mich auf irgendein
privilegiertes Wissen bezöge, das ich dann aber nicht preisgeben wollte und hörte sich vielleicht
sogar nach einer Ausrede an?
Deshalb möchte ich dir diese e-mail schreiben, um dir ein paar Gedanken, die für mich mit dem
Begriff verknüpft sind, zu schicken und im schreibenden Denken und denkenden Schreiben den
Begriff auch für mich zu klären. Das mag unspannend und uncool sein und vielleicht findest du es
auch ein bisschen lächerlich, sich die Mühe zu machen, einen Begriff zu klären.
Wenn es richtig ist, dass Emanzipation sich immer auf Herrschaft bezieht und die Dekonstruktion
von Herrschaft meint, hängt die Strategie des Begriffs immer davon ab, was man als Herrschaft
versteht. „Emanzipation“ kann deshalb sehr Unterschiedliches meinen. Will man prominente Clishés -
einerseits die polemisch-affirmative Position, die die Emanzipation leugnet, und andererseits die
Position des Sozialkitsches, die den Begriff der Emanzipation verklärt – umgehen, muss etwas
weiter ausholen. Nur so kann man vermeiden, die ausgetretenen Denk-Wege noch weiter
auszutrampeln.
Die Begrifflichkeit des Begriffs
Wonach fragen wir, wenn wir danach fragen, was „Emanzipation“ HEISSEN soll? Offensichtlich
fragen wir nach einem BEGRIFF und damit nach einer Definition. Obwohl man von der Definition
nicht auf den mit ihr verknüpften Gegenstand schließen darf, können wir NACH DEM VERHÄLTNIS
ZWISCHEN DEFINITION UND GEGENSTAND fragen.
Die herkömmliche Logik hat zwischen Nominaldefinition (Wortdefinition) und Realdefinition
(Sachdefinition) unterschieden. Realdefinitionen beziehen sich auf Dinge oder Vorgänge und
Nominaldefinitionen bestehen aus einem neuen Wort für eine Gruppe bereits bekannter Worte
(beispielsweise „Schimmel“ für weißes Pferd). Heute wird uns allerdings zunehmend klar, dass
es keine Sachdefinitionen geben kann, sondern nur Nominaldefinitionen (und diese ehrwürdige,
alteuropäische Unterscheidung der Scholastik - genauer gesagt dem „Universalienstreit“ - und
der Ontologie geschuldet ist).
Andererseits ist es nicht so, dass Definitionen immer und allein dadurch zustande kommen, dass
eine Gruppe bereits bekannter Wörter mit einem neuen, bislang unbekannten Wort gleichgesetzt
wird (wie im Beispiel „weißes Pferd“), sondern darüber hinaus gibt es Definitionen, die nicht
einfach nur bereits bekannte Wörter kombinieren, sondern wo das Definiens (also das, mit dessen
Hilfe das Definiendum definiert wird) nicht nur aus einem Substantiv mit bestimmten und
bestimmenden Adjektiven zusammengesetzt ist und die Definition nicht nur eine Abkürzung für
einen an und für sich schon bezeichenbaren Gegenstand ist, sondern wo die Definition den
Gegenstand, den sie bezeichnet, miterschafft. In diesem Fall wird der Gegenstand erst durch
den Begriff denkbar. Wir schlagen für diese Definitionen die Bezeichnung „konstruktiv“ vor.
Konstruktive Definitionen beziehen sich immer auf Gegenstände, die keine „Dinge“ sind, sondern
mehr oder weniger komplexe Zusammenhänge. Dies hat einerseits den Vorteil, dass nicht mehr
ontologisch gedacht wird (also Begriffe nicht „Dingen“ zugerechnet werden) also die alte
Vergegenständlichung (die eine grammatikalische Verführung der indogermanischen Sprachen
darstellt) aufhört, andererseits hat es den Nachteil, dass sich die Perspektive im Begriff
verunsichtbart. Man kann mit derartigen Begriffen nur noch das denken, was sie implizieren.
Deshalb halte ich es durchaus für sinnvoll, konstruktive Begriffe immer wieder einmal zu hinterfragen
und darüber nachzudenken, was sie offen legen, was sie ermöglichen und was sie verdecken und
was mit ihnen undenkbar wird. Oder auch darüber nachzudenken, was die Verwendung oder das
Nicht-Begreifen-Können des Begriffs über den, der den Begriff verwendet, oder denjenigen, der ihn
nicht begreifen kann, aussagt.
Denn beispielsweise kann man den Begriff „Emanzipation“ weder als Neo-Liberaler, noch als Religiöser
begreifen. Der Neoliberale und der Religiöse treffen sich in der Vorstellung, dass es gut ist, wie es ist.
Beide ergänzen diese Einstellung in der Regel mit Moral, also mit Zurechungen auf Subjekte vor dem
Hintergrund der Unterscheidung Gut/Böse. (Die Welt ist von Gott oder dem Markt geschaffen und der
Markt und Gott haben damit auch gewisse Regeln erschaffen, die eingehalten werden müssen. Die Bösen
sind die, die das nicht tun: Sünde und Korruption werden dann für die Handlungen der Bösen begrifflich
reserviert).
Dies sind keine Weltbeschreibungen, mit deren Hilfe man den Begriff „Emanzipation“ verstehen kann,
denn der Begriff „Emanzipation“ impliziert nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit der
Veränderung der Macht- oder Herrschaftsverhältnisse. Was meint das? Herrschaft ist - frei nach Max Weber -
die Festschreibung von Macht. Während Macht in jeder Situation vorhanden ist und unter Umständen neu
ausgehandelt werden kann und wird, ist Herrschaft ihre Festschreibung, die auf Vereinbarungen
(rationale Herrschaft), Tradition oder Charisma beruhen kann (so oder ähnlich Weber).
Wer aber kann etwas mit dem Begriff „Emanzipation“ anfangen?
Diejenigen, die mit Marx davon ausgehen, dass Besitzverhältnisse legitim als SOZIALE Verhältnisse
beschreibbar sind und dass Eigentum und Geld eher Grundlage von Herrschaftsverhältnissen, denn
als Grundlage von bloßen Machtverhältnissen verstanden werden können.*
Diejenigen, die begreifen, dass nur gemeinsam mit den unmittelbar Betroffenen Veränderungsprozesse
durchzuführen und Avantgarde-Konzepte zumindest problematisch sind.
Diejenigen, die die Majorität, die für das Ganze steht, nicht als alleinigen Repräsentanten
akzeptieren wollen, sondern nach immer neuen Repräsentationsformen für das Minoritäre suchen.
Der Begriff Emanzipation ist zwar kompatibel mit dem Begriff „Klassenkampf“, braucht ihn aber nicht
notgedrungen; denn man kann davon ausgehen, dass es immer und überall Herrschaft gibt, die mit
entsprechenden Symbolen festgeschrieben wird, und dass schon die Thematisierung der
Herrschaftsverhältnisse (wenn sie nicht durch Geld bestimmt sind) zu ihrer Auflösung beitragen
kann. Während der Begriff des „Klassenkampfs“ davon ausgeht, dass er in einer Revolution
akkumuliert, geht der Begriff der „Emanzipation“ davon aus, dass der Prozess der Dekonstruktion
von Herrschaft nicht abschließbar ist.
Der Begriff Emanzipation hat, so wie wir ihn verstehen, zwei Aspekte: Der erste hat mit
Umverteilung und buchstäblichen Rechten zu tun und der zweite mit Anerkennung. Diese beiden
Aspekte entsprechen unterschiedlichen Vorstellungen von Herrschaft. Der erste Aspekt versteht
Herrschaft buchstäblich, also im Sinne von: Wer hat welches Recht (Eigentum, Befehlsrecht etc.)?
In der zweiten Dimension geht es um Repräsentation. Beide Begriffe spielen in emanzipatorischen
Bewegungen in der Regel ineinander und durchmischen sich: Einerseits die Forderung nach
Umverteilung oder die Forderung nach bestimmten Rechten und andererseits die Forderung
nach Anerkennung.
„Umverteilung“ lässt sich aus der liberalen Tradition im angloamerikanischen Sprachraum herleiten.
Die „analytische Philosophie“ (insbesondere Rawls, Dworkin) hat ausgefeilte Theorien zur
Verteilungsgerechtigkeit entwickelt (John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, F.a.M. 1975;
Donald Dworkin, What is Equality? Part 2: Equality of Ressources in: Philosphy and Public Affairs,
10/4 {Herbst 1981, p.283-345}).
„Anerkennung“ dagegen, zumindest so wie wir den Begriff hier verstehen, hat ihre Wurzel in der
Philosophie Hegels. In dieser Tradition bezeichnet „Anerkennung“ eine ideale reziproke Beziehung
zwischen Subjekten, in der andere ALS GEICHWERTIGE UND ZUGLEICH ANDERE und von sich
Getrennte gesehen werden. Auf psychologischer Ebene ist „Anerkennung“ subjektivitätskonstruktiv,
d.h. zu einem Subjekt wird man, indem man von einem anderen Subjekt anerkannt wird (also als
Unterschiedliches und doch Gleiches gesehen wird) und indem man dieses Subjekt dann auch
anerkennt. „Unterschiedlich“ hat hier wiederum zwei Dimensionen: Die buchstäbliche des anderen
Menschen und die des Andersseins. Anerkennung meint nicht „Toleranz“, aber auch nicht „Empathie“,
sie meint, im hier verwendeten Sinne, die GleichWERTIGKEIT des ANDEREN. (Das ist natürlich eine
konstruierte Idealgröße, die in der Wirklichkeit nicht vorkommen kann, sondern nur graduelle
Unterschiede schafft; religiöse, rassistische und nationalistische Gemeinschaften zeichnen sich im
Allgemeinen dadurch aus, dass ihnen nur der Gleiche als Gleichwertiger erscheint.)
Auf der soziologischen Ebene entspricht Anerkennung der Bildung einer Kategorie mit repräsentativer
Funktion. Diese Anerkennung wird immer gegen eine Majorität entwickelt. Die Majorität ist nicht das
quantitativ Überlegene, sondern die Idealgröße oder auch die hierarchische Spitze, die das Ganze
repräsentiert. Emanzipation meint hier also auch, das Überhörte hörbar werden zu lassen.
Unsere These ist nun, dass in unserer heutigen Gesellschaft Anerkennung und Umverteilung immer
enger miteinander verflochten sind; denn einerseits wird Ausschluss und Einschluss immer stärker
über Geld organisiert und nur wer Rechte hat, kann sich Gehör verschaffen, andererseits hängen
die buchstäblichen Rechte, insbesondere auf globaler Ebene stark von der medialen Aufmerksamkeit
ab.
Hier scheiden sich die Wege des rein politisch Arbeitenden und des politischen Künstlers. Während
der politisch Aktive traditionellerweise Proteste unterstützt, die buchstäbliche Rechte einfordern,
kann die Aufgabe des politisch aktiven Künstlers nicht nur darin bestehen, aktiv das Überhörte
und Übersehene sichtbar werden zu lassen, sondern auch darin, distributive Strukturen
bereitzustellen.
Wir sollten den Begriff „Emanzipation“ nicht der Sozialdemokratie überlassen!
* Letzteres besteht in der bürgerlichen Vorstellung, die in der nach der Französischen Revolution
entstandenen bürgerlichen Institution „Restaurant“, zum Ausdruck kommt (und in denen die
arbeitslos gewordenen Hofköche arbeiteten) und sich die Bourgeoisie (also nach der bourgeoisen
Vorstellung „jedermann“) bedienen lassen und fürstlich speisen konnte. Jedermann kann also -
so die bürgerliche Vorstellung - auch Macht ausüben. Richtig - wenn „Jedermann“ als bürgerliches
„Meinesgleichen“ definiert wird und somit 80 % der Weltbevölkerung ausgeschlossen werden.
belikin schrieb:
> Was hat das ganze mit Netzen und digitalen Medien zu tun?
Gute Frage!
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