[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Jan 20 17:10:31 CET 2005


Stefan:

> >Dem Begriff "Medium"
> >liegt in seinem Wortsinn eine Vorstellung von immaterieller Substanz
> >versus materiellem Träger zugrunde. 
> 
> wie selbst sagst, geht es der technischen Medientheorie (Kittler, Ernst, 
> Siegert, Hagen, Pias, mir ...) gerade darum, diese Dichotomie zu 
> verneinen, um Medien als technische, als materielle und physikalische 
> messbare zu beschreiben. (Kabel, Felder, Schwingungen ...) Als Basis, 
> nicht um dabei stehen zu bleiben.

Weshalb nennt sich diese Medientheorie dann noch Medientheorie, wenn es
ihr doch darum geht, höhere Maßstäbe der Seriosität und Genauigkeit in
einem Gebiet durchzusetzen, in dem gerne geschlampt wird?  Daß "Medium"
nun einmal "Mittler" heißt, läßt sich mit keiner Theorie wegradieren.

> Die Leistung einer von technologien und Materialitäten ausgehenden 
> Medientheorie liegt gerade darin, die Dichotomie von "Substanz" und 
> "Träger" zu hintergehen.

Das leuchtet mir ja ein. Aber dann noch von "Medien" zu reden, erinnert
mich an einen Atheisten, der zwar Gott abgeschafft hat, aber immer noch
vom heiligen Geist spricht.

> >schließlich ist die Debatte um Funktion und Eigensinn von Medien
> >eine Neuauflage jener Debatte um die von Saussure eingeführte
> >Begriffsdichotomie von "Signifikat" - als immaterieller Botschaft - und
> >"Signifikant" - als materiellem Träger der Botschaft - in der Linguistik
> >und Semiotik. 
> Nein, bestimmt nicht. Das Konzept eines "Zeichens" tritt immer mehr 
> zurück. Kittler hat die Doppelung von Signifikant/ Signifikat von Lacan 
> importiert, ohne aber je Semiotik zu betreiben. Ein Begriff wie 
> "Bedeutung", der mit der Zeichentheorie verbunden ist, ist für die 
> technische Medientheorie nicht relevant. 

Das eben halte ich für eine Illusion. Wenn Kittler z.B. über den
"kill"-Befehl und die "Dämonen" von Unix philosophiert, reflektiert
er nicht technische Materialität, sondern eine Semantik bzw. sprachliche
Bedeutung, die dem System von seinen Entwicklern (Thompson und Ritchie
im Jahr 1970) willkürlich eingeschrieben wurde. Dies ist nur ein
beliebiges Beispiel; analoges gilt für jede technische Medienkritik.
Denn selbstverständlich schreibt technische Medientheorie auch
Techniken, die nicht mit semantischen Labels wie "kill" oder "Dämon"
versehen sind, Bedeutung zu, dann nämlich, wenn sie von einer
technischen Konfiguration diskursanalytisch z.B. auf ästhetische und
politische Weiterungen schließt.  

"Bedeutung" wäre für eine technische Medientheorie nur dann irrelevant,
wenn sie Medien tatsächlich nur als Medien, und Schaltungen nur als bloße
Schaltungen, d.h. in ihrem reinen technischen Funktionieren analysieren
würde; ein Job, für den man aber keine Medientheoretiker braucht,
sondern Physiker und Elektrotechniker, und bei dem, wie Du am Anfang
schreibst, auch technische Medientheorie nicht stehenbleiben will.  Im
Wort "Theorie", Sichtweise, steckt ja bereits das Konzept der Deutung
und Zuschreibung von Bedeutung. Eine Kulturwissenschaft und -kritik, die
dies ernsthaft - und nicht bloß provokativ - negieren würde, hätte sich
selbst abgeschafft.

Davon abgesehen, gibt sehr wohl Semiotiken, die ostentativ
antisemantisch, also ohne den Begriff der Bedeutung operieren, an
erster Stelle die Informationsästhetik Max Benses und der Stuttgarter
Schule der 50er bis 70er Jahre, die mit Shannon denselben Gewährsmann
wie die technische Medientheorie hat. Der Erkenntnisgewinn der
technischen Medientheorie gegenüber Bense scheint mir gerade zu sein,
daß sie sich mit purer Syntax-Analyse nicht zufriedenstellt, sondern
letztlich historische Bedeutungen analysiert.

> Niemand fragt nach einer 
> semantischen oder pragmatischen Dimension, sondern es geht im Sinn 
> Foucaults darum, wann und wie eine Technik, ein Medium oder eine 
> bestimmte Aussage auftaucht. Das ist etwas ganz anderes als Zeichentheorie.

Einspruch. Es ist eine Zeichentheorie, die von klassischer Semiotik
lediglich darin abweicht, daß sie Bedeutung nicht mehr im Signifikanten
liest - bzw. behauptet, dies nicht mehr zu tun, s.o. -, sondern im
Kontext. Weshalb sie sehr wohl Bedeutungen verhandelt und beschreibt,
als Diskurstheorie nur auf einer verschobenen Ebene. Dies ist überhaupt
kein Widerspruch zu irgendeiner Semiotik und wird von jedem
zeichentheoretischen Modell abgedeckt. (Kein Wunder, da Foucault ja
immer noch Strukturalist war.)  

Mit Peirce gesprochen, ist technische Medientheorie eine Semiotik, die
ihr Augenmerk auf indexikalische Zeichen legt.  Zeichen also, die nicht
durch ikonisch-mimetische Ähnlichkeit (wie ein Desktop-Icon oder eine
audiovisuelle Simulation, Baudrillard-Territorium also) oder
als symbolisch-abstrakte Zuschreibungen funktionieren (wie der
kill-Befehl), sondern solche Zeichen, denen ihr Erzeugungsprozeß als
Spur oder Signatur materiell eingeschrieben ist. Die Behauptung der
technischen Medientheorie ist lediglich, daß alle Zeichen a priori
indexikalisch seien, also die materielle Signatur ihrer
Erzeugungstechnik tragen, ferner, daß ihre symbolische Funktion
nachgeordnet ist und durch den Index prädeterminiert wird.

[Ich argumentiere nur deshalb dafür, das Kind Semiotik nicht mit dem Bad
Medientheorie auszuschütten, weil sich so die Redundanzeffekte einer
ewigen Wiederkehr der gleichen Debatten unter neuen Labels reduzieren
lassen. Und weil die Grundkonstruktion "Medientheorie" bereits eine
einzige Begriffsschlamperei ist. Die eine Lösung ist, sich damit
abzufinden; nonchalant nach Tilmans Modell, opportunistisch oder zynisch
nach dem Modell all jener Germanisten, die laut Fink-Katalog nun auch
Medienforscher sind. Der andere Lösungsversuch, Ordnung und Klarheit in
die verfahrene Chose zu bringen, für den die technische Medientheorie
steht, scheint mir jedoch nicht erfolgversprechend.  Das ist so, also
wenn man einen ab (McLuhan-)Werk kaputt designten Sphaghetti- und
Chaos-Code zu debuggen versucht, obwohl man ebenso an einer zwar
älteren, aber vorausschauender und eleganter geschriebenen Codebasis
weiterarbeiten könnte.  Medientheorie erinnert mich insofern an Windows
und die seit Jahrzehnten irrationale Erlösungshoffnung, daß es nach dem
nächsten großen Update endlich zuverlässig wird, nur weil niemand Lust
hat, sich mit so etwas altem, langweiligen und unbunten wie
Unix-Terminals abzugeben.]

> >oder eine universelle
> >kulturwissenschaftliche Basteldisziplin ...(Meine Sympathie gilt der
> >letzteren insofern, als ich fürs Basteln bin.)
> sehe ich genau so - dann schliesst sich die Frage an, was eine solche 
> Bastelei als Wissenschaft qualifzieren würde und welches Wissen sich so 
> gewinnen lässt.

Gar nichts würde solch eine Bastelei als Wissenschaft qualifizieren. 
Kultur- bzw. Geisteswissenschaften einschließlich Kunst- und
Medienwissenschaft "Wissenschaft" zu nennen, ist ja ohnehin eine
deutsche Marotte. Nirgendwo sonst auf der Welt werden diese Fächer
"Wissenschaft" bzw. "science"/"scientia" genannt.

Auch die Wissenschaftlichkeit der deutschen
Geistes-/Kulturwissenschaften ist eine reine Simulation. Es gibt in
diesen Disziplinen im strengen Sinne keine "Forschungsergebnisse", keine
Theoreme mit formaler Beweisführung, sondern letztlich nur Ansichten und
subjektive Lehrmeinungen - und deshalb auch, unhintergehbar, Aussagen
über Bedeutungen und Semantik. 

> >Doch bereits dann, wenn man nicht mehr über Leiterbahnen redet, sondern
> >über Schaltungen, verläßt man das Feld der Medien im engeren technischen
> >Sinne und metonymisiert den Begriff "Medium", ersetzt also das Ganze
> >durch einen Teil von ihm. (Eine Schaltung ist kein Medium, sondern 
> >technischer Apparat, dessen Medium elektrische Leiter sind.) 
> 
> das ist nun sehr eng geführt. Man kann auch den gesamten materiellen und 
> physikalisch beschreibbaren Komplex hinter den beiden Funktionen 
> "Speichern" und "Übertragen" als "technische Meiden" betrachten und hat 
> damit einen relativ klaren Ausgangspunkt. 

Dann dürfte technische Medientheorie sich z.B. nicht mit Computern als
Rechenmaschinen befassen, sondern nur mit Computerspeichern und
-Datenleitungen.

> Wobei ich auch nicht auf dem 
> Begriff "Medium" bestehen will - man kann die Dinge auch als Speicher, 
> Kanäle oder Informationstechnologien bezeichnen.

Wobei Informationstechnologie mehr umfaßt als Speicher und Kanäle, z.B.
logische Schaltungen (wie eine CPU) und audiovisuelle und taktile
Eingabe- und Ausgabetechniken (Tastatur und Bildschirm z.B.). Ein
Rechenwerk ist kein Kanal und kein Speicher (auch wenn es Kanäle und
Speicher enthalten kann), eine Tastatur und eine Bildschirmanzeige
ebenfalls nicht.

> In dem Sinn ist es auch egal, ab es Kultinformatik oder Medientheorie 
> heisst.

Das eben finde ich nicht egal, weil man sich als "Medientheorie" in eine
bestimmte Tradition und ein bestimmtes diskursives Feld begibt und
dieses fortschreibt. Z.B. war ein materialzentrierter Ansatz einer
Medientheorie gerade deshalb eine Provokation, weil er eine Antithese
zur in den 80er Jahren dominanten Medientheorie Baudrillards
formulierte.

> > Technische Medienwissenschaft ist somit,
> >pardon, auch nur ein institutionelles Label für eine spekulative
> >Kultur-Informatik ..
> (oder umgekehrt...)

Informatik hat aus meiner Sicht mehr als nur Medien - also, nach Deiner
Definition, Speicher und Kanäle - zum Gegenstand, und welchen Sinn (vom
institutionspolitischen abgesehen) es hat, eine technische Medientheorie
neu zu begründen, wenn es eine Informatik mit demselben Forschungsgebiet
schon lange gibt, sei dahingestellt; doch ist es wohl müßig, darüber
Erbsen zu zählen.

> >... daß die Krise der in Tilmans Sinne definierten Medien mit der
> >üblichen Verspätung auch die Universitäten erreichen wird.
> >"Medientheorie" und "Medienwissenschaft" werden dann, so wette ich,
> >ebenso als Epochen-Phänomene enden wie einstmals die Kybernetik.
> 
> Sehe ich genau so - und die Symptome lassen sich nicht nur ausserhalb,
> sondern auch innerhalb einer technischen Medientheorie feststellen,
> die sich in universitären Zusammenhängen einigelt, sich in alter
> geisteswissenschaftlicher Tradition an historischen Details festbeisst
> und die Chance verpasst, zur Gegenwart von Kultur und Medien relevante
> Forschungen beizutragen.

Rohrpost-Konsens, wie es scheint. Das ist vielleicht auch der Grund
fürs kritische Nachhaken zur Medientheorie. Der gegenwärtigen Kultur
und für gegenwärtige künstlerisch-technische Praxen ist es letztlich
egal, ob die Theorie und Kritik, die sich mit ihr befaßt, zur Zeit
gerade "Ästhetik", "Semiotik", "cultural studies", "Medientheorie" oder
sonstwie heißt, solange es irgendeine akademische Disziplin mit noch
offenen Augen und Ohren gibt. Sind diese nicht mehr offen und igelt
sich, wie Du schreibst, die Medienwissenschaft universitär ein, sind
auch härtere, akademische Fragen nach ihrem Gegenstand und ihrer
Legitimation erlaubt.

-F

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