[rohrpost] Die deutsche Medientheorie ist tot

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mon Okt 25 18:06:30 CEST 2004


Am Sonntag, 24. Oktober 2004 um 04:42:38 Uhr (+0200) schrieb Janus von Abaton:

> Die Sache wird doch so aussehen, es wird hier ein wenig über deutsche
> Medientheorie resümiert, man schreibt ein wenig, aber man verausgabt
> sich nicht. Am Ende werden the usable suspects eingeladen, die immer
> und überall da sind; man trifft sich zur Abwechslung mal in Amsterdam. 

Wenn es so ist oder zu passieren droht, dann könnte man ja versuchen, es
besser zu machen, zum Beispiel, indem man hier auf dieser Liste einmal
eigene Vorstellungen einer Medientheorie formuliert. Ich versuche
zusammenzufassen und unrein zu formulieren, was die bisherige
rohrpost-Diskussion als rote Fäden und geteilte Auffassungen zu
durchziehen schien:

- Wir brauchen Theorien und Kritiken der Künste, der Politik, der
Kulturen in ihrem Verhältnis zu Kommunikationstechnologien.

- Letztere werden zumeist "Medien" genannt, und ihre Theorie und Kritik
"Medientheorie", "Medienwissenschaft", oder auch, je nach Epoche und
Schule, "Kybernetik", "Informationsästhetik", "technische Semiotik" oder
"Kulturwissenschaft". Eine Begriffsdebatte interessiert uns nur
sekundär, obwohl nicht klar ist, wofür präzise die Termini "Medium" und
"Medien" stehen und ob sie letztlich zu mehr taugen als nur zu saloppen
umgangssprachlichen Begriffe. Wir sprechen von "Medien" bewußt 
in diesem pragmatischen Sinne.

- Wir wollen eine Medienwissenschaft und -theorie, die ihre Erkenntnisse
vor allem aus heutiger Kunst, Politik, Kultur und Technologie gewinnt;
statt einer Medienesoterik, die sich in den Elfenbeinturm der
Wissenschaftsgeschichtsschreibung zurückzieht. 

- Wir verhehlen nicht, daß uns geistes- bzw.  kulturwissenschaftliche,
kunstkritische und philosophische Methoden mehr interessieren als
sozialwissenschaftliche per se.

- Erkenntnisse aus dem zeitgenössischer Kultur zu gewinnen, heißt, 
Theorie im etymologischen Wortsinn der "Beobachtung" zu betreiben
und vor allem den Künsten bescheidener als Interpret, nicht als 
Überbau-Lieferant gegenüberzutreten. 

- Vor allem die akademische Medientheorie und -wissenschaft sollte daher,
wie die Kulturwissenschaften überhaupt, in engeren Kontakt mit
künstlerischer Ausbildung gebracht werden. Allerdings gerade nicht mit
dem Ziel, Studiengänge zu funktionalisieren und das Studium in eine
Berufsausbildung umzuwidmen.

- Medientheorie sollte ihre Erkenntnisse aus kritischen
Detailbeobachtungen gewinnen, zum Beispiel aus einem "close reading"
eines Softwareprogramms, phänomenologisch denken statt in
geistesgeschichtlichen Pauschalisierungen. Jede Art von
Verallgemeinerung über "die Medien" ist uns suspekt und zuwider.

- Medientheorie, -kritik und -diskurs sollten ineinander übergehen,
Theorie z.B. auch aus Netzforen-Diskussionen entstehen.  Die alten
akademischen Publikationsrituale von Tagungsbänden, gedruckten
Fachzeitschriften erweisen sich gerade in den Medienwissenschaften als
Hinder- und Ärgernis. Wer auf öffentlichen Stellen und mit öffentlichem
Geld publiziert, soll dies auch öffentlich tun, und unter seine Texte
unter Open Content-Lizenzen verbreiten, anstatt seine Verwertungsrechte
honorarfrei an kommerzielle Verlage abzutreten.

[...]

Dies nur als grobe, schnell dahingeworfene Skizze. Es fehlen gewiß
Punkte, und man kann vieles besser formulieren.

-F

-- 
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