[rohrpost] (Schnappschuß) rohrpost-Wiki: Für eine neue Medientheorie
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Nov 12 15:42:44 CET 2004
Gewissermaßen als Entwickler-Schnappschuß folgt hier die derzeit
aktuelle Revision Nr. 60 von
<http://pzwart2.wdka.hro.nl/~fcramer/cgi-bin/wiki.cgi?Medientheorie>,
an der eine Reihe von rohrpost-Mitgliedern mitgeschrieben haben.
[Anonyme Mitverfasser können sich, wenn sie möchten, noch nachträglich im
Personenindex
<http://pzwart2.wdka.hro.nl/~fcramer/cgi-bin/wiki.cgi?Personenindex>
eintragen.]
S.a. den Kommentar von Pit Schultz nebst andere Kommentaren dazu auf
<http://pzwart2.wdka.hro.nl/~fcramer/cgi-bin/wiki.cgi?Anmerkungen> sowie
einen Text von Till Nikolaus von Heiseler zum Thema "Was ist Kunst?"
<http://pzwart2.wdka.hro.nl/~fcramer/cgi-bin/wiki.cgi?Kunst>.
Ergänzungen, Änderungen, Verbesserungen bitte direkt ins Wiki eintragen.
-F
rohrpost-Wiki: Für eine neue Theorie der Medien
* Es gibt zahllose Kritiken und Theorien der Künste, der Politik,
der Wirtschaft, der Wissenssysteme, - kurzum der Kultur - in ihrem
Verhältnis zu Informationstechniken. Zu wenige von ihnen jedoch
sind hilfreich für die Diskussion zeitgenössischer Praktiken, die
uns interessieren: E-Mail, Websites, peer-to-peer filesharing,
nichtinstitutionelle elektronische Künste, Open Source und Freie
Software zum Beispiel. Was sich mit bestehenden Theorien nicht
zufriedenstellend beschreiben läßt, erfordert schlicht neue
Theorie.
* Diese Informationstechniken werden zumeist "Medien" genannt, ihre
Theorie und Kritik "Medientheorie", "Medienwissenschaft", oder, je
nach Epoche und Schule, "Kybernetik", "Informationsästhetik",
"technische Semiotik" oder "Kulturwissenschaft". Nach wie vor ist
nicht klar, wofür die Begriffe "Medium" und "Medien" präzise
stehen und ob sie letztlich nur als umgangssprachliche Formeln
taugen. Wir kennzeichnen sie daher mit einem Fragezeichen, als
Provisorium und work-in-progress, das entweder durch Gebrauch an
Form gewinnt oder sich überleben wird.
* Medientheorie, die alles ein "Medium" nennt, spricht über alles
und nichts. Medienwissenschaft aus dem Geiste der
DFG-Forschungsantragsschreibekunst ist erfahrungsgemäß die
Institutionalisierung dieser Ziel- und Gegenstandslosigkeit. Diese
Form von Medienwissenschaft vollzieht ein terminologisches Update
dessen, was früher "Zeichen" hieß, auf "Medien", sonst nichts.
* Wir wollen hingegen eine Medienwissenschaft und -theorie, die ihre
Erkenntnisse aus heutiger Kultur, d.h. Künsten, Politik und
Technologie gewinnt und Medienarchäologie nicht als Selbstzweck
betreibt.
* Wir verhehlen nicht, daß uns primär kulturelle Aneignungen von
Technologien interessieren - durch Bastler, Künstler und
Aktivisten zum Beispiel -, empirisch-sozialwissenschaftliche
Fragestellungen und Methoden sowie Zeitungs- und
Rundfunkwissenschaften weniger.
* Erkenntnisse aus zeitgenössischen Kulturen zu gewinnen, heißt,
Theorie im etymologischen Wortsinn der "Beobachtung" zu betreiben.
Natürlich ist sie keine interesselose, sondern eine teilnehmende
Beobachtung. Dies bedeutet, der Kultur, die uns interessiert, als
Partner, Kommentator, Vermittler gegenüberzutreten, nicht aber als
anmaßender Überbau-Lieferant. Es gehört zu den unfreiwilligen
Ironien postmoderner Theorien, daß sie im autoritären Gestus von
Christentum und Marxismus das Ende großer Erzählungen verkündet
haben.
* Die universitäre Medientheorie und -wissenschaft gehört daher, wie
die Kulturwissenschaften überhaupt, in engeren Kontakt mit
künstlerischer, gestalterischer und technologischer Bildung.
Technische Grundlagen und Funktionsweisen sind auch praktisch zu
erlernen und zu lehren, als Mittel zum kulturkritischen Zweck
jedoch, ohne Medienwissenschaft zum Ausbildungsbetrieb für
Medienberufe oder, im anderen Extremfall, Medientheorie zu
Technik-Ontologie verkommen zu lassen.
* Außeruniversitären Medienpraxen und -diskursen gehört jener
Technik- und Insiderjargon ausgetrieben, der Außenstehende zu
Recht befremdet.
* Medientheorie sollte, wie alle Geisteswissenschaften, ihre
Erkenntnisse aus kritischen Detailbetrachtungen gewinnen - zum
Beispiel aus einem "close reading" eines Softwareprogramms. Sie
sollte phänomenologisch denken statt in geistesgeschichtlichen
Pauschalisierungen. Jede Verallgemeinerung über "die Medien" ist
uns suspekt und zuwider.
* Aus der Detailbetrachtung und teilnehmender Beobachtung jedoch
kann spekulativer Funken geschlagen und riskant gedacht werden.
Dies hier ist kein Aufruf zu spießiger Kleingeistigkeit.
* Medientheorie, -kritik, -diskurs und -praxis sollten ineinander
übergehen, Theorie zum Beispiel auch aus Netzforen-Diskussionen
entstehen. Reflexionsmedien jenseits des wissenschaftlichen Texts,
auch jenseits des Mediums Text als solchem, sind diskursfähig.
* Die akademischen Publikationsrituale von Tagungsbänden und
gedruckten Fachzeitschriften gehören als alte Zöpfe abgeschnitten,
sie sind ein Hinder- und Ärgernis. Wer auf öffentlichen Stellen
und mit öffentlichem Geld publiziert, soll dies öffentlich tun und
Texte unter freien Lizenzen verbreiten, anstatt Verwertungsrechte
exklusiv und honorarfrei - oder sogar noch mit Zuschußzahlungen -
an Verlage abzutreten. Gleiches gilt auch für andere Arbeit, die
sich öffentlicher Förderung verdankt.
--
c/o Media Design Research, Hogeschool Rotterdam
http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/