[rohrpost] DIE ZEIT: Mit der Rasierklinge ins Auge 08/2004
Henning Ziegler
mail at henningziegler.de
Don Feb 19 10:17:56 CET 2004
DIE ZEIT
08/2004
Mit der Rasierklinge ins Auge
Kunst ist Schock, Schmerz, Verweigerung. Die Erwartungen des Staates,
der sie fördert, kann sie nur enttäuschen. Sie dient nicht der
Gesellschaft, sondern nur sich selbst
Von Thomas E. Schmidt
Wir schlittern in eine Epoche, die uns lehren wird, wieder das Knie zu
beugen. Viele hungern nach Perspektiven, in denen gesellschaftliche
Wirklichkeit in einem Licht höher als alle Vernunft erscheint. Von
dieser Warte aus ist Rechtfertigung – oder auch Kritik – möglich, an der
sämtliche Einsprüche einfach abperlen."Der Andalusische Hund" von Dalí
und Bunuel (1928) Foto: defd
Die Religion ist wieder ein ernst zu nehmender Zufluchtsort, aber auch
die Kunst. So groß ist das Unbehagen an der Welt, dass der Verfall der
Moral, die Verhässlichung der Welt durch die globale Wirtschaft, der
Irrsinn der Wissenschaft, die Verblödung der Massen, kurz: unsere
umfassende Sinnlosigkeitsvermutung anscheinend nur noch durch eine
Rhetorik des Hochheiligen oder des Letztgültigen im Zaum gehalten werden
kann. Linksliberalismus und Inquisition reichen in Gestalt von Habermas
und Ratzinger endlich einander die Hände. Nichts hält mehr den Zug der
westlichen Kultur auf in eine Zeit abstoßender fundamentalistischer
Scharmützel um geringfügige Prinzipienfragen.
Inmitten dieses gleitenden Übergangs in ein Klima des Antisäkularismus
markiert die Kunst eine Grenze. Sie ist weltlich, aber es umgibt sie
mehr denn je ein Nimbus die Gegenwart überschreitender Wahrheit. Immer
noch bildet sie das Gravitationszentrum des geltenden Kulturbegriffs,
und auch das deutsche Verständnis von „Bildung“ enthält seit Schiller
eine robuste ästhetische Komponente. Kunst ist gerade heute das Ziel
eines – im Übrigen begreiflichen – Eskapismus der Jugend in Musik-,
Schauspiel- und Kunsthochschulen, und für das Langzeitgedächtnis der
Gesellschaft sind Kölner Dom und Matthäuspassion allemal wichtiger als
sämtliche Archive.
Milliarden fließen jährlich in den deutschen Kulturbetrieb, vermutlich
wendet kein Land auf der Welt so viel Geld für die Pflege seiner
ästhetischen Gärten auf wie dieses. Wir reden dabei nicht von
Denkmalpflege und Museen, sondern von aktueller Kunst, von den
Produktionen der Jetztzeit. Nie hatten so viele Menschen die
Gelegenheit, als Künstler zu leben, nie war ihre Chance größer, über die
Medien ein Publikum zu erreichen. Die Freiheit der Kunst ist durch das
Grundgesetz geschützt, der Staat ist ästhetisch ehrgeizlos. Theoretisch
müssten wir in einem goldenen Zeitalter leben, tatsächlich leben wir
aber nicht einmal in einem eisernen Zeitalter, sondern in einem des
Trompetenblechs.
Im Zeitalter des Trompetenblechs
Denn der überwiegende Anteil an der zeitgenössischen Kunst ist nichts
anderes als Kunstgewerbe. Es wird hergestellt, um den Markt der Bücher
und der Galerien zu bedienen, oder auch nur, um den Kulturbetrieb in
seiner jetzigen Form am Leben zu erhalten. Durchschnittskunst hat eine
klare soziale Funktion, aber keine besonders weiten Sinnhorizonte. Um
darin ein Goldkörnchen Transzendenz aufzufinden, muss man schon eine
Menge Fantasie mitbringen. 90 Prozent der Produktion sind flott erzählt,
routiniert gespielt, professionell getüncht und gesampelt. Kunst soll
emotionalisieren: Es bleibt dennoch beim ausgeleierten épater le
bourgeois. Sie soll gesellschaftliche (Unrechts-)Verhältnisse auf den
Punkt bringen: Jeder denkende Mensch weiß, dass die Wirklichkeit
komplexer ist als im Repertoire der Schreie und des Flüsterns
vorgesehen. Das Ganze hält sich als ein Zirkus der geistigen
Unterforderung in Schwung, egal, ob subventioniert oder aus eigener Kraft.
Immer höher schrauben sich währenddessen die Ansprüche, die von der
Kultur an die Kunst gerichtet werden. Kunst soll den Stress der
Globalität lindern, sie soll gesellschaftlichen Sinn stiften, an rechter
Stelle normative Eindeutigkeit herstellen und möglichst auch noch die
Kinder zu Friedensengeln erziehen. In einem Land, in dem es um nichts
anderes mehr geht als den Erhalt eines kommoden Status quo plus ein
kleines bisschen Wachstum, lädt sich die Kultur notgedrungen mit solchen
Erlösungserwartungen auf.
Utopien, Träume, Bilder einer anderen Welt, Antworten auf die Frage
„wozu?“: alles Kultur. Kultur ist das exklusive Spielfeld der Experten
für die „letzten Fragen“, die in den gesellschaftlichen Subsystemen
sinnlos geworden sind. Darüber ist Kultur selbst zu einem Subsystem
geworden. Keine Überraschung, dass es ausgerechnet Gerhard Schröder war,
der Kultur einen Platz im Bundeskabinett einräumte – Schröder, der den
Pragmatismus zum verpflichtenden politischen Stil erhob, was 1998 Charme
hatte, weil es die Traditions-SPD aufmischte, aber inzwischen sein
hässliches, sein sozialtechnokratisches Gesicht zeigt. Nie war mehr
Bedarf an Kompensation durch Kultur. Wo soll Schröders
Innovationsgranate zünden? Natürlich im Wunderreich der immateriellen Werte.
Die Kultur soll uns in unserem so durch Sachzwänge eingeengten Leben
mittels grenzüberschreitender Kommunikation vorm klaustrophobischen
Überschnappen bewahren. Sozialtechnisch gesehen, ist die Begründung
dieser Hoffnung simpel: Die Kunst liefert anschlussfähige diskursive
Ereignisse in ausreichender Zahl, welche das Kommunikationsmedium Kultur
in Arbeit halten. Künstlerische Provokationen und ästhetische
Kontroversen sind nötig, aber bloß, um gelegentlich die Leitsemantik
auszuwechseln. Darin besteht die „kulturelle“ Funktion des Ästhetischen.
Solange Kultur funktioniert – als öffentlich sichtbare Bestätigung, dass
überhaupt noch Sinn produziert wird, dass die Gesellschaft palavert und
nicht Blut fließt –, sind auch Politik und Wirtschaft beruhigt: So
schlimm sieht’s gar nicht aus.
Ist Beethovens Botschaft die Europahymne?
Wäre es daneben denkbar, dass die Kunst, die ernst gemeinte, die große,
richtige, nicht das Kunstgewerbe und auch nicht die Kulturbetriebskunst,
von jedweder sozialer Zuständigkeit meilenweit entfernt ist? Und dass
Kunst überhaupt kein kulturelles Pharmakon ist, welches den Diskurs
erregt und die Gesellschaft gleichzeitig beruhigt? Die Stimmung unter
Künstlern ist nicht gut. Ratlosigkeit ist verbreitet, und das ist
ausnahmsweise einmal ein günstiges Zeichen: Theaterleute setzen sich
eindringlich mit der Krise des Theaters auseinander, die Romanschreiber
wollen nicht hinnehmen, dass sie nur noch Lebenshilfe für Leserinnen
mittleren Alters leisten sollen, die bildenden Künstler staunen darüber,
wie schäbig und korrupt das Galerien- und Ausstellungswesen geworden
ist, während sich das Musiktheater offenbar ganz fürs Kulinarische und
den kulinarischen Skandal entschieden hat.
Die Wahrheit ist: Kunst und Kultur sind zwei vollkommen unterschiedliche
Formen des Lebens. Kultur ist für sich auch wichtig, aber sie ist weiß
Gott nicht die Schiene, auf der die Kunst in die Gesellschaft flutscht
und mit ihr der vermisste Sinn des Ganzen. Außerdem ist Kunst etwas, das
nur selten vorkommt, viel seltener, als die meisten vermuten. Und sie
macht das Leben auch nicht leichter für den, der sich auf sie einlässt,
sondern eher schwieriger.
Sie verkompliziert das Dasein. Auf schmerzliche Weise konfrontiert sie
mit den Gebresten des eigenen Ich. Sie sorgt nicht für soziale
Gleichheit und stiftet keine Gemeinschaften im Zeichen irgendeines
weltanschaulichen Konsenses. War Malewitsch’ Schwarzes Quadrat der
Ausdruck einer innovationsfreudigen Gesellschaft? Ist die Botschaft des
späten Beethoven die Europahymne? Hat einer, der gerade Philip Roths
Sabbath’s Theater gelesen hat, noch Lust, etwas zur Stärkung der
deutschen Gebärgemeinschaft beizutragen?
Bedeutende Kunst steht in einem Verhältnis misstrauischer, wenn nicht
aggressiver Gleichgültigkeit zur heutigen Gesellschaft. Die Welt soll ja
gar nicht mehr ästhetisiert werden, die Träume der Avantgarden sind
ausgeträumt. Jede politisch geschürte Kampfeslust der Künste hat sich
verbraucht, sie wich einem sublimen Distanzbedürfnis. Wo ein Künstler
über einen langen Zeitraum hinweg seine private Mythologie entfaltet, wo
er sich als Talkshow-Gast, als Kritiker und als Kommentator
Zurückhaltung auferlegt, da gibt es ein gewisses Indiz für das Vorkommen
von Kunst, vor allem dann, wenn dieser Künstler sein gesamtes Leben für
das Werk in die Waagschale zu werfen bereit ist. Das muss nicht
Unverständlichkeit oder näselnde Hermetik nach sich ziehen, aber es
bedarf einer gewissen kalkulierten Sturheit, um an einem starken
alternativen Verständnismuster der Wirklichkeit zu arbeiten. Den meisten
bleibt eine solche Anstrengung unbegreiflich.
Bestenfalls geht es in der Kunst ums geistige Überleben, um eine andere
Weise wahrzunehmen, zu fühlen, vielleicht auch zu denken. Man kann nicht
einmal benennen, worin die „Belohnung“ des Ästhetischen für denjenigen
besteht, der sich ihm ausliefert – in einer Freiheit womöglich –, aber
wozu genau?, in einer Leere oder in einem Ungesehenen, Ungefühlten, in
einer Verstörung oder in etwas „Inkommensurablen“, wie es bei Goethe hieß?
Große Kunst bleibt für den gegensäkularen Zeitgeist eine schlechte
Verbündete, und zwar nicht nur, weil sie vollkommen weltlich, sondern
auch, weil sie radikal individualistisch ist. Man möchte in ihr einen
Vorschein von Transzendenz erspähen, gemeint ist aber eine harmlose und
sozial verträgliche, im besten Fall sogar: mehrheitsfähige Transzendenz.
Aber weder verspricht noch beansprucht Kunst gesellschaftliches Glück.
Kulturwerte, ob sie nun „kommunikative Gesellschaft“ oder „sinnstiftende
Religiosität“ heißen, bleiben ihr fremd. Ihr Vorbehalt gegenüber der
Gegenwart – genauso wie gegenüber der Zeitkritik – ist unbegrenzt. Kunst
redet von Flucht, nicht von Utopie. Für die gute Gesellschaft bleibt
Nietzsches Satz ein Skandal: „Lieber sterben, als hier leben.“