[rohrpost] Re: n0name newsletter #48 - 'social software'
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Feb 19 13:08:57 CET 2004
Am Donnerstag, 19. Februar 2004 um 11:00:08 Uhr (+0100) schrieb Andreas
Broeckmann:
> >Dasz Software etwas soziales sei, ist nach Lev Manovich, der den
> >Begriff "Social Software" in die Debatten einbrachte, an der Idee des
> >kulturellen Gedaechtnisses abzulesen.
>
> da wir fuer die transmediale.01 den begriff von fuller & harwood
> geklaut haben, denen mE hier auch eigentlich der quell-ruhm gebuehrt,
> waere ich dankbar, wenn du sagen koenntest, wann/wo lev den begriff
> 'eingebracht' hat.
Da ist Matze bzw. dem Autor des Texts offensichtlich eine Verwechselung
unterlaufen. Lev Manovich hielt u.a. im Herbst 2002 an Freien
Universität Berlin einen Vortrag über "cultural software", skizzierte
diesen Begriff jedoch eher allgemein anhand von Interface-Metaphern
graphischer Anwendungssoftware und von künstlerischen Softwarearbeiten,
als ihn genau zu definieren.
Matthew Fuller und Graham Harwood haben, Jahre vor Manovich, die
Begriffe "critical software", "social software", und "speculative
software" vorgeschlagen:
- "kritische Software" beziehe sich kritisch bzw. parodistisch auf
bestehende Software (so z.B. jodis Wolfenstein-Modifikationen oder, so
könnte man extrapolieren, Adrian Wards "Auto-Illustrator");
- "soziale Software" entwerfe Gesellschaftsstrukturen oder entstehe aus
einem Austausch von Nutzern und Entwicklern (Georg Greve von der FSF
Europe meinte auf der transmediale.01, nur Freie Software könne auch
soziale Software sein; aus meiner Sicht ist selbstverständlich auch
MS Windows "soziale Software", nur eben in einem anderen Sinne bzw. mit
einem anderen Gesellschaftsmodell);
- "spekulative Software" sei ein konzeptuelles Neudenken
von Software durch Software. Dieser Begriff korrespondiert laut Matthews
Homepage mit demjenigen der Softwarekunst, wie ihn etwa runme.org
vertritt und mit Beispielen versieht.
Die ausführlichen Definitionen der drei Begriffe finden sich in Matthews
Aufsatz "Behind the Blip - Software as Culture"
<http://listserv.cddc.vt.edu/pipermail/softwareandculture/2002-January/000057.html>,
der auch in seinem gleichnamigen Buch erschienen ist.
Ich hatte mit ihm einmal diskutiert, ob nicht jedes Softwarekonzept zum
Zeitpunkt seiner Erfindung spekulativ sei; so z.B. zunächst die
Abstraktion der Software von der Hardware als solcher, das Konzept
höherer Programmiersprachen (wie Shortcode und ALGOL), funktionale
Programmierung (Lisp), Unix (mit seiner qua Simplizität eleganten
Kommandozeilen-Komponentenarchitektur von standard input/standard
output/standard error und pipes, dem Konzept, alle Resourcen als Dateien
abzubilden und alle Daten als prozessierbare Ströme von ASCII-Text, der
Erfindung von Markup-Sprachen [troff]), objektorientierte Programmierung
und GUIs (Smalltalk), Komponentenarchitekturen, verteilte
Betriebssysteme etc.. All diese Konzepte und auch ihre
Implementierungen waren spekulativ bis zum Zeitpunkt des Massenerfolgs
einer oder mehrerer ihrer Implementationen, mit dem früher oder später
auch die Grenzen und Restriktionen des Konzepts sichtbar wurden, aktuell
z.B. bei GUIs und Komponentenarchitekturen. Einige dieser Konzepte sind
trotz technisch erfolgreicher Implementation "spekulativ" geblieben,
weil ihnen der Erfolg versagt blieb und ihre Konzepte nach wie vor
radikal vom Gewohnten abweichen, so z.B. Lisp-Maschinen und das Plan
9-Betriebssystem.
Ich frage mich, ob wir damals in der Software-Jury der transmediale.01
einen Fehler gemacht haben, als wir die vom Festival ursprünglich
"Artistic Software" genannte Wettbewerbskategorie in "Software Art"
umbenannten. (Wir waren allerdings nicht die Erfinder dieses
Schlagworts, sondern dieser und ähnliche Begriffe wie "artware"
kursierten mindestens seit 1999, u.a. in Texten von Saul Albert und Alex
Galloway, abgesehen von historischen Prototypen wie Jack Burnhams
"Software"-Ausstellung von 1970 und der ebenfalls in diesen Jahren
erschienen videokünstlerischen und -aktivistischen Zeitschrift "Radical
Software".) Uns ging es damals vor allem darum, Mißverständnisse
auszuräumen und künstlerische Arbeiten im Medium der Software zu
unterscheiden von Softwarewerkzeugen für Künstler wie z.B.
konventionelle Graphikprogramme oder Audio-Sequenzer (wie sie in
nicht zu knapper Zahl auch in den Wettbewerb eingereicht wurden).
Vielleicht war es auch nicht gut, den Begriff "Software Art" für
runme.org beizubehalten, und es wäre besser gewesen, bei Matthews
Begriff der spekulativen Software zu bleiben. Durch das Kunst-Label
beschränkte sich der Diskurs über Softwarekunst und sein
Rezeptionshorizont quasi automatisch auf das institutionelle Umfeld der
(sog.) Medienkunst, obwohl wir uns bei runme.org redlich Mühe geben,
über den Tellerrand zu blicken und z.B. Freier Software-Entwicklung
systematisch zu folgen und interessante Projekte auf unserer Website zu
verzeichnen.
Andererseits zeigt ja die - wie ich finde, sehr gründliche und
lesenswerte! - Analyse von .walk im n0name-Newsletter, daß
softwarekünstlerische Arbeiten (um vorläufig bei diesem Terminus zu
bleiben) kritische, soziale und spekulative Software _zugleich_ sein
können.[*]
-F
[*] Was auch für meine persönlichen Favoriten der letzten beiden
transmediale-Softwarewettbewerbe, Joan Leandres "retroyou" und
textz.coms "walser.php" gilt.
--
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