[rohrpost] def. medien und medienwissenschaft (nur für hardcore-akademiker)

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mon Jul 7 00:12:23 CEST 2003


Am Freitag, 27. Juni 2003 um 13:53:23 Uhr (+0200) schrieb Martin Lindner:
 
> es ist wahrscheinlich uncool, aber ich würde gern den folgenden eher
> umfangreichen definitionsvorschlag für "medien" und "medienwissenschaft" zur
> diskussion stellen.

Ich wollte schon früher darauf antworten und komme aus Zeitmangel erst
jetzt dazu:

> Diskussionspapier zu einer exakten Definition von "Medien" als Voraussetzung für
> eine nicht-eklektizistische Medienwissenschaft

Den Versuch finde ich gut, da "Medien" bzw. "Medium" in den heutigen
Geistes- und Kulturwissenschaften ein zur völligen Beliebigkeit
breitgetretener Begriff geworden ist.

> (0) Medienwissenschaft ist nicht gleichbedeutend mit der Summe aller
> wissenschaftlichen Aktivitäten, die das empirische Feld der "Medien" erforschen.

Womit Du Publizistik, Demoskopie, aber auch Mediensoziologie und
-anthropologie explizit ausschließt.

> Gegenstand der Medienwissenschaft ist das Eigentümliche der "Medien", das andere
> Wissenschaften nicht erfassen: das "Mediale" an "die Medien", 

Solange "die Medien" nicht definiert sind, weiß man auch nicht, was "das
Mediale" ist.

> ihr spezifischer
> systemischer Zusammenhang und ihre spezifischen Wechselwirkungen, ihre
> Binnenlogik und Eigendynamik auf allen Ebenen: technisch,
> sozial/gesellschaftlich, semiotisch/"sprachlich", kulturell. 

S.o. - O.k., es soll also um eine System- oder Strukturerforschung von
"Medien" gehen.

> (1) Gegenstand der Medienwissenschaft ist nicht "das Medium", sondern "die
> Medien". Ausgangspunkt ist der Sinn, in dem wir den Begriff seit ca. 40 Jahren
> vorwissenschaftlich verwenden, um eine grundlegende Veränderung unserer
> Lebenswelt zu bezeichnen. Ihr Kernsatz ist "The Medium Is the Message."

Polemisch gekontert: A rose is a rose is a rose - a medium is a medium
is a medium.

Deine Definition ist eine Zirkulardefinition. 

> (1.1) Die Wissenschaft, die "die Medien" fokussiert, untersucht in erster Linie
> die gegenwärtige Struktur und den historischen Wandel der Medien-Konstellationen
> im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Zeichen und Botschaften,
> d.h. seit etwa 1850. 

Das finde ich willkürlich gesetzt. Warum nicht z.B. seit Gutenberg oder
seit der Erfindung der Lithographie?

> (1.2) Sie geht dabei aus von der Tatsache, dass der Leitbegriff "Medien" nicht
> nur zum Signum unserer Epoche geworden ist, 

Dann legst aber wiederum einen empirischen und soziologischen
Medienbegriff zugrunde:  "Medienwissenschaft" legimitiert sich also
dadurch, daß wir in einer Epoche leben, in der beständig von "Medien"
die Rede ist.

> sondern tatsächlich den Schlüssel
> zum kritischen Verständnis unserer Lebenswelt darstellt, wenn man von der
> paradoxen Verselbständigung ausgeht, die der Begriff selbst bereits in seiner
> üblichen Verwendung enthält: "The Medium Is the Message" heißt dann (über
> McLuhans idiosynkratische Deutung hinausgehend), dass wir im Zeitalter von "die
> Medien" leben und überhaupt erst von "Medien" sprechen, 

S.o.


> seit es unabweisbar
> geworden ist, dass "Medien" noch etwas anderes tun als zu "vermitteln" bzw.
> "Botschaften zu übertragen".

Dies ist eine These, die ich erst gerne begründet sähe. Könnte es nicht
vielmehr sein, daß hierin das Mißverständnis bzw. haltlose Wuchern des
"Medien"-Begriffs zu sehen ist und man (wenn überhaupt) "Medium" streng
als Übertragungskanal definieren sollte?

Das Problem des Begriffs "Medium" ist aus meiner Sicht das einer
wuchernden Metonymie (d.h. einer Sprachfigur, in der ein Ding durch
ein benachbartes, unter- oder übergeordnetes Ding ersetzt wird):  Das
Radio z.B., könnte man meinen, hat Radiowellen als sein "Medium" zwischen Sendern und
Empfängern.[*] Doch dann beginnt man, auch von den
technischen Sende- und Empfangsapparaten als "Medien" zu sprechen,
und in einer zweiten Metonymie wird plötzlich auch der redaktionelle
Apparat eines Radiosenders zum "Medium", bis schließlich das Radio
als solches ein "Medium" ist. Die nächste metonymische Wucherung, in
der Teil und Ganzes miteinander verwechselt werden: Weil der Computer
als Universalmaschine in sich alle technischen Informationssysteme
emulieren kann, z.B. das Radio durch Internet-Streaming, und somit alle
sog. "Medien" in sich aufnimmt, wird er (seit Alan Kay) selbst zum
"Medium" erklärt.


> (1.3) Medien sind demnach nicht (bzw. nicht mehr) im Rahmen einer herkömmlichen
> Theorie von "Kommunikation" als bloße Werkzeuge und Vermittlungsinstanzen
> adäquat zu erfassen, die "Botschaften" gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher
> Akteure zum "Rezipienten" transportieren, sondern als Medienkonstellationen, die
> komplexe Medienräume, besondere "Subjektstellen" (Foucault) und letztlich
> umfassende Lebenswelten schaffen. 

Auch hier ist Deine Definition tauto- bzw. autologisch: "Medien sind
[...] zu erfassen [...] als Medienkonstellationen, die komplexe
Medienräume [...] schaffen".

> (1.4) "Die Medien" in diesem engeren Sinn entstehen zuerst
> technisch-phänomenologisch (seit ca. 1850, wirklich wirksam erst seit ca. 1900)
> und dann (seit den 1950er Jahren) auch als Begriff genau da, wo die fundamentale
> Differenz zur "Gutenberg-Galaxis" deutlich hervortritt. 

1. Wieso? 

2. Mir ist immer noch nicht klar, was Du genau als "die Medien"
definierst.

> Medienbegriffen gesetzt sind. So muss die (im weiteren Sinn) "medienhistorische
> Epoche" zwischen 1500/1900 scharf getrennt werden von der "Epoche der Medien"
> (im engeren Sinn), die um 1900  wirklich einsetzt. (Und es gibt Indizien, dass
> um 1980 der Beginn einer neuen "Epoche der Medien" anzusetzen ist). 

Das erscheint mir alles als eher geschichtsmetaphysisch, denn klar!

> (2.) Das "Wesen des Mediums" gibt es nicht. Insbesondere ist die Rede im
> Singular ("das Medium") theoretisch streng genommen sinnlos und irreführend. 

Wie begründest Du das? Wovon leitet sich denn sonst der Plural "die Medien" ab? 

- Ich gebe Dir ja prinzipiell recht, würde nur den umgekehrten Schluß
ziehen, von den Begriffen "Medium" und "Medien" wenn überhaupt, dann nur
äußerst skeptisch und zurückhaltend Gebrauch zu machen.

Die Vorstellung des "Mediums" halte ich für ein letztes Überbleibsel der
Physik des vorletzten Jahrhunderts und ihrer heute obsoleten Vorstellung
des "Äthers".  (Tatsächlich spricht man beim Radio ja noch vom "Äther".)
Was die Medientheorie der letzten Jahrzehnte unternommen hat, ist nichts
anderes, als durch ständige metonymische Verschiebungen des Begriffs
"Medium" von seiner Unhaltbarkeit abzulenken.

> (2.1) Falsch ist im medienwissenschaftlichen Zusammenhang ein Satz wie: "Der
> Fernseher (das Buch, die Luft, die Post, die Schrift, das Bild, das Foto, der
> Computer ...) ist ein Medium." 

Einverstanden. - Am ehesten leuchtet mir noch ein umgangssprachlicher
Gebrauch ein, der z.B. von leeren Disketten, CD-ROMs, Festplatten und
USB-Sticks übergreifend als "Speichermedien" spricht.

> Post" ...) erschließt. Und auch die metonymische Abkürzung ist nie unschuldig
> und immer irreführend.

Hier sind wir auf einer Linie.

> (2.5) Nötig ist dann, in einem zweiten Schritt sämtliche etymologischen und
> lexikalischen Kurzschlüsse und damit alle gern gebrauchten Taschenspielertricks
> auszuschließen: das Wasser, in dem der Fisch schwimmt, "die Sprache", das Orakel
> von Delphi bzw. ein spiritistisches "Medium" ... sind "Medium" in einem
> fundamental anderen Sinn. 

Vielleicht gerade nicht, weil sie Teil derselben
metaphysisch-theosophischen Weltsicht sind, der sich "Äther" und
"Medium" ihre Geburt verdanken.

> (3.0) Unter "die Medien" wären zu verstehen 
> (3.1) komplexe und je raumzeitlich und kulturell spezifische
> "Medienkonstellationen" auf verschiedenen Ebenen, sowohl im umfassenden Sinn
> ("die Medienkonstellation einer Kultur") als auch im partiellen und konkreten
> Sinn ("die Medienkonstellation ?PC/WWW'"),

Meiner Meinung nach eine Zirkulardefinition, wie oben dargelegt.

> (3.2) wobei diese Medienkonstellationen in erster Linie interessieren als
> semiotische Systeme im umfassenden Sinn, die Zeichen, "Texte" und soziale
> "Botschaften", aber auch "Sender"-, "Vermittler"- und  "Empfänger"-Positionen
> eher erzeugen/konstruieren als "verarbeiten", 
> wobei die Faktoren dieses medialen Prozesses wiederum zu zerlegen sind 

Einverstanden, wenn Du z.B. den PC heranziehst. Ist dann nicht aber der
Begriff "Medium" völlig deplaziert und obsolet? Warum nicht einfach
statt "Medien" von "Informationstechniken" reden, und statt
"Medienwissenschaft" von "technischer Semiotik"?

> (3.3) in die technische Apparaturen und Systeme, die als "Proto-Code" auch der
> Semantik bestimmte Grenzen ("Bandbreite des Kanals") setzen und im übrigen
> unweigerlich komplexe symbolisch/semiotische Bedeutungsaufladungen begünstigen
> und provozieren, 
> (3.4) in die eigendynamischen sozialen Systeme, die sich um diese technischen
> Apparaturen auskristallisieren und ausdifferenzieren, die wiederum bestimmte
> Codes implizieren bzw. den Codes der medialen Zeichen und Botschaften bestimmte
> Restriktionen auferlegen und die zugleich funktionaler Bestandteil des
> übergreifenden sozialen (ökonomischen, politischen) Systems "der Gesellschaft"
> sind,

Hier setzt Du technische Codes (d.h. maschinelle Instruktionen) mit
institutionellen/sozialen Codes gleich, was bereits die Semiotik der
60er und 70er Jahre getan hat. Der Nachteil dieser Operation scheint
mir ein unpräziser, letztlich metaphorischer Begriff von "Code" zu
sein:  Aus dem Begriff "Code" als einer Anweisung die denotativ, nicht
konnotativ ist, formal und nicht auslegungsbedürftig, wird so wiederum
eine konnotative und hermeneutische Kategorie.

> (3.5) in die Ebene der "Mediensprachen", d.h. all der konkreten semantischen
> Codes, die sich um technische und soziale System herum auskristallisieren und
> ausdifferenzieren und wiederum auch in ihrer Funktion für den übergreifenden
> Code ("die Sprache") zu analysieren sind, und 

S.o. - "Sprache" könnte man umgekehrt als Überbegriff für verschiedene
Sprech- und Notationssysteme fassen, mit formalem Instruktionscode als
einer speziellen Untermenge. Daraus ergäbe sich aber eben keine
Äquivalenz von "Sprache" und "Code".

- Danke!

-F




[*] So einfach ist es leider nicht: Sind nicht die Wellen, sondern die
Luft das Medium? Oder vielmehr die Teilchen, aus denen sich die Luft
zusammensetzt?
-- 
http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/
http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html
GnuPG/PGP public key ID 3200C7BA, finger cantsin at mail.zedat.fu-berlin.de