[rohrpost] Niedergang von "Telepolis"

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mit Aug 20 14:41:44 CEST 2003


An anderer Stelle hatte ich hier schon einmal angemerkt, daß sich
Telepolis <http://www.telepolis.de> von einem "Magazin der Netzkultur"
zu einer antiamerikanischen, paranoiden Polit-Postille gewandelt habe;
doch mit dem heute erschienenen Artikel "Neuer Zusatz zum
Einbürgerungsrecht - Mehr als 20.000 Familien stehen vor der
Entscheidung, ihre Heimat Israel aufzugeben, oder sich scheiden zu
lassen, weil die arabischen Partner ausgewiesen werden können" von
Cecilia Schreiber ist das Maß des Erträglichen überschritten. 

Es geht in dem Artikel um ein neues, auf ein halbes Jahr befristetes
israelisches Gesetz, daß palästinensischen Ehepartnern israelischer
Staatsbürger das pauschale Einbürgerungsrecht streicht, und zwar vor dem
Hintergrund von Scheinehen, mit denen palästinensische Attentäter aus
den besetzten Gebieten sich die israelische Staatsbürgerschaft
verschafft haben.  Dieses Gesetz wird laut
<http://www.zmag.de/article/article.php?id=765> von Amnesty
International und Human Rights Watch als "diskriminierend" bezeichnet
und verdient es zweifellos kritische Berichterstattung. 

Der Telepolis-Artikel suggeriert aber, daß Israel seine nicht-jüdischen
Bürger ausweisen wolle, daß israelisch-arabische Familien in Angst vor
Deportationen lebten ("Salwa Abu Jaber, 28 Jahre alt, Mutter von vier
Kindern und die Frau des Arabers Mahmoud, mit dem sie seit 10 Jahren
verheiratet ist. Sie liegt seit dem neuen Gesetz nachts häufig wach und
schreckt auf, sobald ein Auto unerwartet vor dem Haus anhält, weil sie
darauf wartet, dass ihr Ehemann abgeholt wird") und insinuiert somit
Ähnlichkeiten von Israel mit dem Dritten Reich.  Die Autorin schreibt
ferner: "Gut 6 Millionen Bürger zählt Israel. Jeder Fünfte ist
arabischer Herkunft und ein Bürger 2. Klasse wie seinerzeit die schwarze
Bevölkerung in den Vereinigten Staaten", als wenn es in Israel Sklaverei
gebe, Rassentrennungsgesetze wie die von 1880-1950 in Südstaaten
gültigen "Jim Crow Laws", oder, analog zur Praxis einiger
US-Bundesstaaten noch in den 1960er Jahren, Vorenthaltungen des
Wahlrechts von israelischen Staatsbürgern arabischer Herkunft.  

Zu diesem auch sprachlich primitiven Propagandatext haben auch ein paar
kritische "Telepolis"-Leser das Nötige im Telepolis/Heise-Forum
angemerkt, siehe
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?list=1&forum_id=46259>,
insbesondere die Beiträge
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4024702&forum_id=46259>,
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4026556&forum_id=46259>,
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4026666&forum_id=46259>,
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4026770&forum_id=46259>,
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4026831&forum_id=46259>,
<http://www.heise.de/tp/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4022527&forum_id=46259>.

Telepolis hatte einmal eine wichtige Rolle als Multiplikator von
Diskursen über Netzkunst und -kultur, Hackerkultur und freies Wissen,
und auch als Subventioniererin freier Journalisten und Autoren, gerade
aus dem Umfeld der "rohrpost". Unter einigen von ihnen war der
Niedergang von Telepolis privates Gesprächsthema, vielleicht ist es jetzt
Zeit, diesen Diskurs endlich öffentlich zu führen?!

-F

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