[rohrpost] Folgen der Raserei
Ronnie Vuine
rv@struppig.de
Fri, 03 May 2002 21:10:12 +0200
Morgen -
das hier passt nicht nach struppig.de, also kriegt es die Rohrpost:
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Folgen der Raserei
Ein widerliches Schauspiel. So widerlich, daß man gar keine Lust hat, wohlklingendes Vokabular zur
Beschreibung herzunehmen. Man möchte die auftretenden Figuren mit Fäkalsprache zuschütten, damit die
glitschige Selbstgefälligkeit abgeht und sie wenigstens menschlicher riechen.
Also, schreiten wir zur kathartischen Tat. Schleimscheisser, schlotzfrisurige, weissharige, pastoral
dahergreinende Greise mit Mitleidsflitzkacke. Verpisst euch wieder von den Bildschirmen und macht Platz
für die Leute mit den Pumpguns.
Also, was ist los, daß die weisshaarigen Guten aus ihren Minister- und Bundespräsidentenlöchern geknarzt
kamen? Man braucht ihnen bloss zuzuhören: Wir haben uns alle nicht mehr gern. Wir arbeiten miteinander,
kennen uns aber nicht. Wir leihen den Nachbarn keine Milch mehr, wir schauen uns immer so grausame
Sachen an, alle sind ganz kalt und unsozial und bös. Und Leistung wird auch dauernd gefordert. Und dann
gibt es noch die Computer-Gaijms, die die Menschen zu virtuellen Mördern machen, und im Fernsehen sind
auch Autos zu sehen, die immerzu kaputt gemacht werden anstatt nur eingeparkt. Kein Wunder, daß die
Schüler da die Lehrer erschiessen.
Wir erleben die Thierseisierung der Republik in voller Konsequenz. In Talkshows loben die Herren die
deutsche Schuljugend dafür, daß sie vorbildlich reagiert habe, nach dem Amoklauf von Erfurt: Sehr
nachdenklich und betroffen. Und kein Schüler stellt sich hin und fragt die Politikerfratze, die so etwas von
sich gibt, wer er ist, daß er weiss wie die deutsche Schuljugend zu sein und zu reagieren hat.
Zwei Tage nach dem Amoklauf entblödet sich ein Landesinnenminister nicht, dem Kanzler "skandalöse
Untätigkeit" vorzuwerfen, weil Gewaltvideos nicht verboten sind. Offenbar hat ihn keiner gefragt, wann der
Kanzler die denn hätte verbieten sollen.
Und alle legen sie Kränze nieder und halten die gutmenschigsten und pastoralsten Habt-euch-doch-lieb-
Reden seit der Erfindung des Tränendrüsenschrittmachers. Der Kanzler, vom Landesinnenminister schwer
mit Skrupeln beladen (und wer's glaubt wird selig und vergisst sofort alle Gewalt), ruft einen runden Tisch
zusammen mit den Herren vom Fernsehen. Die können dem Kanzler in diesen Tagen nicht den Vogel
zeigen, ohne böse böse böse dazustehen und von der vereinigten weisshaarigen Rieg zur Beförderung
des Guten im Menschen öffentlich böse böse böse genannt zu werden.
Statt dem Kanzler den Vogel zu zeigen, weisen sie bloss drauf hin, daß sie die Medien sind und keine
Einflussnahme der Regierung wünschen. Wäre das nicht so böse böse böse könnte man auch einfach
sagen, daß sich brennende Autos besser verkaufen als geparkte. Um aber doch ein bisschen gut
dazustehen, wissen die Herren vom Fernsehen, wo das wirklich böse böse Böse herkommt: Die Computer-
Gaijms und Internet-Turniere sind nämlich keine Medien oder noch nicht so lange oder wenigstens nicht so
gut organisiert, also darf man da ruhig Einfluss nehmen, respektive man darf verhindern, daß die deutsche
Schuljugend zu virtuellen Mördern wird.
Es ist ein widerliches Schauspiel. Akademisierend könnt' man sagen: die pralle Eiterbeule eines
laizistischen Pietismus. Das Aufblähen und Platzen einer neuen Gewissheit des Guten. Angesichts der
Übermacht all diesen Gutseins wäre die einzige Art, den Toten überhaupt noch Respekt zu zollen, das
Auskippen von drei Wagenladungen Scheisse in die Blumenmeere und Kranzberge von Erfurt.
Was ist nur los? Wäre man Punk oder was immer Punks heute sind, könnte man einfach sagen: Alle krank,
haben eine Macke, soundsoviel Tote im Strassenverkehr, Kapitalismus tötet, das Geld ist Schuld, die
Gewalt steckt in der Gesellschaft weil die Gesellschaft Kabul bombardiert und aus.
Aber leider ist diese taz-Haltung bloss die Kurzfassung all der Thierseismen und Rauismen und Vogelismen
der vergangenen Tage.
Warum bloss ist hier niemand ratlos? Wo nehmen die bloss alle ihre Sicherheit her? Die Flaggen auf
Halbmast und den Erfurtern das Abi schenken - soviel zum Thema Anstand und Respekt. Aber dann täte
ein wenig Ratlosigkeit Not und ein wenig 's Maul halten.
Und dann, danach, kann man ja sorgfältig und ruhig darüber nachdenken, ob die Gewalt eines in Raserei
verfallenen wirklich etwas zu tun hat mit Jugendgewalt und böser böser Leistungsgesellschaft.
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rv