[rohrpost] Vom Freien Gebrauch der Nullen und Einsen - "Open Content" und Freie Software [2/2]

Florian Cramer cantsin@zedat.fu-berlin.de
Tue, 4 Jun 2002 18:58:56 +0200


[Forts.]


Urheberrecht in seiner jahrhundertelangen Anpassung an die spezifischen
Bedürfnisse und Gegebenheiten des Buchhandels für digitale Information nicht
mehr taugt, zweitens, daß die Frage, was ihm folgen soll, Gegenstand eines
Kulturkampfs geworden ist. Daß es ein Kulturkampf ist, dessen Ausgang über die
künftige Ordnung des Wissens entscheidet, ist allen technisch Literaten bewußt;
wenn man in Feuilletons kaum davon liest und wenn in Geistes- und
Sozialwissenschaften sowie in den Künsten wenig davon wahrzunehmen ist, so
zeigt sich daran nur das Ausmaß des digitalen Analphabetismus.

Der Fall Napster ist sprichwörtlich geworden, weil sich in ihm der Kulturkampf
erstmals abzeichnete. Vor seiner Abschaltung im Jahr 2001 erlaubte es Napster
jedem seinem Nutzer mit jedem anderen Napster-Nutzer in der Welt Musikdateien
zu tauschen, und zwar außerhalb traditioneller Server-basierter Internetdienste
wie World Wide Web und E-Mail. Der eigentliche Datenaustausch spielte sich nur
zwischen den PCs der Nutzer ab. Der zentrale Napster-Server enthielt keine
Musik, sondern nur eine Datenbank, die die Musikdateien aller momentan
angeschlossener Nutzer katalogisierte. Neuere peer-to-peer Netze wie Gnutella
kommen, indem sie auch den Katalog auf die angeschlossenen Nutzer verteilen,
ganz ohne Zentralserver aus und erlauben über den Austausch von Musik hinaus
das Einstellen beliebiger Dateitypen. Je nach Sichtweise kann man diese Netze
als Einladungen zur systematischen Bruch des Urheberrechts ansehen sowie als
Schund-Multiplikatoren von Pornographie und Chart-Pop; oder aber man hält sie
für eine historische Revolutionierung von Bibliothek und Archiv zu einem
Zusammenschluß von Privatbibliotheken mit einem in Echtzeit katalogisierten
dynamischen Bestand. Auf seinem Höhepunkt im Januar 2001 war Napster die
umfangreichste Musikbibliothek aller Zeiten und bot zumindest die beste
Sammlung populärer Musik des 20. Jahrhunderts. Daher könnte man nicht nur die
Erfindung, sondern auch den Verlust dieses Archivs für epochal halten.

Der Fall Napster, der mit der gerichtlich verfügten Abschaltung des
Zentralservers im Mai 2001 zu den Akten gelegt wurde, legte die Grundlage der
Bestrebungen der Musik-, Film- und Verlagskonzerne, per ,,Digital Rights
Management`` Urheberrechtskontrollen direkt in digitale Medienformate
einzucodieren. Der Bertelsmann-Medienkonzern erwarb die Aktienmehrheit von
Napster Inc. und plante, den Dienst auf der Basis von Abonnementgebühren und
mit einem neuen, ,,Digital Rights Management``-gestützten Musikdateiformat
wiederzubeleben, beließ es bis heute allerdings bei dieser Ankündigung. Zu
Recht sahen Medienkonzerne und Interessenverbände wie die ,,Recording
Assocation of American (RIAA)`` und die ,,Motion Picture Association of America
(MPAA)`` in Napster nur den Anfang einer Entwicklung, an deren Ende zum
Beispiel auch der peer-to-peer-Tausch von digitalisierten Filmen und Büchern
stehen würde. Daß Musik dieser Distributionsweise zum Durchbruch verholf, lag
auch daran, daß sie (im Gegensatz zu Literatur und Film) seit Erfindung der
Audio-CD im Jahr 1982 systematisch als digitales Datenmaterial verbreitet
wurde, dessen Nullen und Einsen vergleichsweise simpel ausgelesen, umcodiert
und in digitale Netze gespeist werden konnten. Daß dies Künstler und Verleger,
die von ihren Urheberrechten faktisch leben, alarmierte, ist so verständlich
wie legitim.

Was also ist problematisch an ,,Digital Rights Management`` bzw. digital
eincodierter Urheberrechtskontrolle? Daß sie die öffentliche Nutzung von Medien
in Bibliotheken sowie in Forschung und Lehre verhindert, leuchtet sofort ein,
daß sie Archivierung und langfristige Lesbarkeit von Information verhindert,
dürfte vielen erst spät dämmern. Interessant sind aber auch die Konsequenzen
für das Rechtsverständnis. Mit dem gesetzlichen Verbot von Entsperr-Techniken
wie im amerikanischen ,,Millennium Copyright Act`` und in der geplanten
EU-Urheberrechtsnovelle erhalten Software- und Medien-Hersteller die
Definitions-Narrenfreiheit darüber, was überhaupt ein ,,Kopierschutz`` ist und
was somit strafrechtlich relevant gegen ihn verstößt. Und wenn schließlich die
Einhaltung urheberrechtlicher Spielregeln durch ,,Digital Rights Management``
erfolgt, wird die Exekutive eines Gesetzes nicht mehr Beamten, sondern
Algorithmen überantwortet, und privatwirtschaftlichen noch dazu. Außerdem
beschränkt sich diese Kontrolle nicht auf das Urheberrecht, sondern greift
massiv in das individuelle Nutzungsrecht ein. Der Definition nach regelt das
Urheberrecht nur die anonyme Transaktion zwischen Urheber bzw. Rechteinhaber
und Käufer, nicht aber Transaktionen von privat zu privat und die private
Nutzung. Analog dazu gesteht das US-amerikanische Recht dem Käufer einen ,,fair
use`` dessen zu, was er legal erworben hat. Bücher zum Beispiel dürfen nicht
nur zitiert, sondern für den privaten Gebrauch auch kopiert, abgeschrieben,
antiquarisch weiterverkauft und natürlich verliehen werden. Wenn das ,,Digital
Rights Management`` zum vermeintlichen Schutz des Urheberrechts alle
Transaktionen und Nutzung entanonymisiert und den ,,fair use`` einschränkt,
wenn neue urheberrechtliche Verbote von Entsperr-Techniken das bisherige
Nutzerrecht auf Privatkopien faktisch abschaffen,{2} so drückt sich darin etwas
aus, das man auch als Gegner solcher Eingriffe nicht bestreiten kann: Daß
nämlich im Zeitalter preiswerter PC-Hardware, preiswerter
Hochgeschwindigkeitszugänge zum Internet und peer-to-peer-Netze zwischen
privater und öffentlicher Transaktion nicht länger unterschieden werden kann.

Denn jedes Abspielen von digitaler Information - jede Anzeige einer Textseite,
jedes Abspielen von Musikstücken und Filmen, jedes Laden einer Software -, ist
ein Vorgang, bei dem Nullen und Einsen von einem Ort zum anderen kopiert
werden, zum Beispiel von der CD-Silberschicht zum Ton-Wandlerchip eines
CD-Players oder von der Festplatte in den Arbeitsspeicher eines Personal
Computers. Die Unterscheidung von ,,Abspielen`` einerseits und ,,Kopieren``
wird um so willkürlicher, je häufiger die Abspielleitung statt des kurzen
Kabels vom CD-Laser zum Audiochip eine Internet-Verbindung ist. Bis zu welcher
Kabellänge werden Bits eine ,,genutzt``, ab welcher werden sie ,,distribuiert
``? So lösen sich mit Discounter-PCs, DSL-Flatrates und Gnutella zwar Bertolt
Brechts und Hans Magnus Enzensbergers Medienutopien ein, denen zufolge die
Empfangsapparat doch gefälligst auch Sendeapparate werden mögen; doch klebt
daran die dialektische Fußangel, daß die vormaligen Empfänger und heutigen
Sender auch allen rechtlichen Risiken des Sender- und Produzententums
ausgesetzt sind.

Doch weiten ,,Digital Rights Management``-Codierungen nicht nur das Regiment
der Urheberrechte pauschal auf die Nutzungsrechte aus, sondern sie sind auch
der Hebel, um das traditionelle Urheberrecht zu umgehen und nach dem Vorbild
der Softwareindustrie durch einen individuellen Kundenvertrag mit einer
Herstellerlizenz zu ersetzen. - In diesem Detail überschneiden sich
interessanterweise das Copyleft der freie Software und das proprietäre
Distributionsmodell digitaler Information. - Der Käufer erwirbt ein Werk nicht
mehr als sein Eigentum, sondern nur mit einer Nutzungslizenz, die zum Beispiel
die Lektüre eines Werks nur durch eine Person und auf einem Gerät erlaubt oder
sogar, wie bereits heute in einigen E-Book-Lizenzen, verbietet, es laut
vorzulesen. Durch ,,Digital Rights Management`` kann nicht nur die örtliche
Nutzung eingeschränkt werden ähnlich wie beim DVD-Regionalcode, sondern auch
die Nutzungsdauer. Vorreiter auf diesem Gebiet ist Microsoft. Für den
de-facto-Monopolisten wird es immer mehr zum Problem, daß Windows-Nutzer die
alten Versionen ihrer Software weiterverwenden und bei sinkenden PC-Preisen die
hohen Lizenzgebühren für vorinstallierte Windows-Betriebsssysteme zunehmend ins
Gewicht fallen. Microsoft möchte deshalb seine Software künftig zukünftig nicht
mehr verkaufen, sondern gegen monatliche oder jährliche Nutzungsgebühren
vermieten (und über die ,,.NET``-Architektur das Betriebssystem fest an eigene
Netzwerk-Dienste koppeln). Auch in digitalen Musik-, Film- und
Literaturkonserven soll das ,,Digital Rights Management`` vor allem die
Umstellung von Verkauf auf Vermietung erleichtern und zeitliche
Nutzungsbegrenzungen und Zahlungsmoral überwachen.

Freier Code als Gegenmodell

,,Open Content`` und Freie Software sind konservative Projekte. Sie sind der
Versuch, das Konzept freien Wissens, akademischer Zitierfreiheit und
öffentlicher Bibliotheken für digitale Netzwerke zu bewahren. Dort, wo das
Copyleft die traditionelle Zitierfreiheit übersteigt, nämlich in der Erlaubnis,
Code willkürlich zu verändern und ohne Urheber-Kompensation kommerziell zu
vertreiben, liegen auch potentielle Fallstricke, die spezialisiertere ,,Open
Content``-Lizenzen zu lösen versuchen. Weil Software-Algorithmen Mathematik
sind und Digitalcodes Binärzahlen, erträumt sich Freie Software für
Computercode dieselbe Freiheit, mit denen mathematische Formeln und Beweise
seit der Antike in der Wissenschaft zirkulieren. Während die Medienindustrie
ihre Lizenz- und Copyrightmodelle an digitalisierten, ursprünglich
nichtschriftlichen Medien wie Tonaufnahmen und Film entwickelt und daher in der
Tradition des sinnlich konkreten Kunstwerks denkt, liegt Freier Software ein
Verständnis digitaler Codes als abstrakter Schrift und freier Meinungsäußerung
zugrunde. Die Buchkultur ist insofern eine Avantgarde digitaler Netze und
Medien, als Literatur (neben schriftlich notierter, insofern literarisierte
Musik) die älteste informationsverlustfrei massenreproduzierbare Kunst ist;
eine konzeptualistische, d.h. weitgehend unabhängig von ihrem materiellen
Träger verfaßte Kunst zumal, der jene Fixierung auf ausstellbare Objekte und
Originale fremd ist, die zum Beispiel den Betrieb der bildenden Kunst an
digitaler Netzkunst verzweifeln läßt.

Als Prototypen digitaler Schriftkultur zeigen Buchdruck und Bibliotheken, wie
ein kommerzielles, privatwirtschaftliches Vertriebssystem mit einem
öffentlich-nichtkommerziellen koexistieren kann. Was wie ein Allgemeinplatz
klingt, war kurz nach Gutenbergs Erfindung noch keiner, denn Drucker und
Verleger wollten Leihbibliotheken zunächst verboten wissen. Das Urheberrecht
glich ihre Interessen mit denen der Bibliothekare, Autoren und Leser aus; es
war nie ein Dogma, sondern Verhandlungsgegenstand und pragmatisches Instrument.

So ist die Unterscheidung von rechtlich geschützter Kunst und freiem Wissen
konventionell und wird erschwert, wenn Wissenschaftler wie Künstler im selben
Notationssystem von Nullen und Einsen arbeiten. Auffällig ist diese Unschärfe
in der zunehmenden Überlappung von (künstlerischem) Urheber- und
(technisch-wissenschaftlichem) Patentrecht. So ist es das Geschäftsmodell der
privatwirtschaftlichen Genforschung von Firmen wie Monsanto und Celera,
entschlüsselte Genome zu patentieren und Gewinn durch die Lizenzierung
geistigen Eigentums zu erzielen. Patentiert sind unter anderem Krankheiten,
Körperteile und Pflanzensorten, als Textcode ihres Genoms. Auch
Software-Konzepte und -Algorithmen werden in den USA großflächig, in der EU
teilweise patentiert. Der Internet-Buchhändler amazon.com zum Beispiel besitzt
ein Patent auf Bestellungen mit nur einem Mausklick. Andere
Online-Versandhandlungen müssen entweder mindestens zwei Mausklicks zum
Abschicken einer Bestellung erforderlich machen oder Lizenzgebühren an Amazon
entrichten. Die British Telecom behauptet, aus den 1970er Jahren ein Patent auf
Hypertext-Links zu besitzen und bringt es gegen die Erfinder des World Wide Web
in Stellung. Da der Computer nach Turing es erlaubt, jede Maschine und somit
jede Technik durch symbolische - d.h. schriftliche - Prozessierung zu
implementieren, wird die Grenze von sogenannter Software-Technologie zu
Literatur und Kunst, zwischen Patent- und Urheberrecht ebenso fließend und in
der Konsequenz willkürlich wie die zwischen Urheber- und Nutzungsrecht.

Wenn es also nötig ist, bisheriges Urheber-, Patent- und Nutzungsrecht zu
revidieren, ist es dann realistisch für das Internet und andere digitale
Informationssysteme eine verbriefte radikale Freiheit der Information, des
Kopierens und Zitierens zu fordern? Und hat freie Information (oder ,,Open
Content``) eine eigene Poetik und Ästhetik, besondere Schreib- und Leseweisen?

Zitate, Parodien und Appropriationen in der Kunst

Nicht nur das meiste Wissen, sondern auch die meiste Literatur und Kunst ist
jedermann frei verfügbar und fällt nicht unter das Urheberrecht. Denn es ist
nur eine Ausnahmeregelung für die Werke lebender Autoren und erlischt siebzig
Jahre nach dem Tod des Urhebers. Dem Buchdruck insgesamt ging es, wie
Gutenbergs Bibel zeigt, zunächst nur darum, vorhandenes freies Wissen zu
multiplizieren.

Erst später entwickelte sich eine Literatur, die genuin für den Buchdruck
konzipiert wurde, Sebastian Brants ,,Narrenschiff`` zum Beispiel, dessen
Erstausgabe 1494 erschien, fünfzig Jahre nach Gutenbergs Erfindung. Das
,,Narrenschiff`` ist eine puritanische Moralsatire in Versform, ein Katalog
menschlicher Laster, von denen jedes durch eine Narrenfigur personifiziert und
in einem Kapitel abgehandelt wird. Text und Illustrationen sind, zumindest in
den frühen Kapiteln des Buchs, nach einem strikten Schema komponiert: Einem
dreizeiligen Motto folgt ein Holzschnitt der Narrenfigur, dann die
Kapitelüberschrift und schließlich 4+30 Verszeilen, die in der Baseler
Erstausgabe die Druckseiten exakt, d.h. ohne Weißraum am Kapitelende ausfüllen.
Text und Bild wurden also dem Druckspiegel angepaßt und nicht umgekehrt. Man
stelle sich analog vor, ein zeitgenössisches elektronisches Musikstück würde so
komponiert, daß es auf die Ziffer genau die 5,2 Milliarden beschreibbaren Bits
einer CD ausfüllen würde. Das ,,Narrenschiff`` ist deshalb eines der ersten
Werke einer massenreproduzierbaren Medienkunst, einer Kunst also, die ihr
Medium nicht als zufälligen, austauschbaren Zeichenträger begreift, sondern
sich aus seinen technischen Parametern heraus formal konstruiert.

Das medienkünstlerische Konzept des ,,Narrenschiffs`` erwies sich als so
erfolgreich, daß bis 1509 nicht nur fünf Originalausgaben des Buchs erschienen,
sondern, kurz nach der Erstveröffentlichung zahllose unautorisierte Nachdrucke,
unter anderem in Straßburg und Augsburg. Da ein Urheberrecht in der Frühneuzeit
noch nicht existierte, gerieten Buchveröffentlichungen zu einem kommerziellen
Wettlauf zwischen Erst- und Nachdruckern. Bereits die zweite Baseler Edition
des ,,Narrenschiffs`` wurde daher mit einer ,,Verwahrung`` gegen die
Nachdrucker versehen, mit der die Geburtsstunde des modernen Copyrights schlug.

Der Begriff des Originalwerks hat in der Geschichte der Literatur wechselhafte
Konjunkturen erlebt. Daß er erst im 18. Jahrhundert zusammen mit dem
Geniekünstler erfunden worden sei, erscheint mir eine zu simple Behauptung. So
geht zum Beispiel das Wort ,,Plagiat``, das seit dem 17. Jahrhundert verbürgt
ist, zurück auf den spätantiken Epigrammdichter Martial, der einen
Konkurrenten, der seine Pointen kopiert und für eigene Erfindungen ausgegeben
hatte, ,,Plagiarius``, Kindesräuber nannte (Martial I,52).

In satirischer Dichtung wie der von Martial und Sebastian Brant entbehren die
Invektiven gegen die Plagiatoren insofern nicht der Ironie, als natürlich auch
Parodien nicht möglich sind ohne die Aneignung anderer Texte oder den
impliziten Rekurs auf sie. Ein aktuelles Beispiel ist der Roman ,,The Wind Done
Gone`` der amerikanischen Schriftstellerin Alice Randall, der Margaret
Mitchells ,,Gone with the Wind`` (,,Vom Winde verweht``) aus der Perspektive
einer schwarzen Halbschwester von Scarlett O'Hara neu erzählt. Am 25. Mai 2001
hob ein New Yorker Berufungsgericht eine von den Mitchell-Erben erwirkte
Verfügung auf und entschied, daß ,,The Wind Done Gone`` kein illegitimes
Plagiat sei, sondern eine zulässige Parodie und durch das Recht auf freie
Meinungsäußerung geschützt.

Davon, wie unscharf die Unterscheidung von Parodie und Plagiat ist, erzählt die
Kurzgeschichte ,,Pierre Menard, Autor des Quijote`` von Jorge Luis Borges. Der
,,Don Quijote``-Roman des (fiktiven) spätsymbolistischen Dichters Pierre Menard
ist zwar bis auf die Autorensignatur in jedem Wort identisch mit dem ,,Don
Quijote`` von Cervantes. Doch durch die Neuzuschreibung eines Texts des frühen
17. an einen Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts gewinnt derselbe
Wortlaut eine völlig andere Bedeutung:

    ,,Es ist eine Offenbarung, hält man den Quijote Menards vergleichend neben
    den von Cervantes. Dieser schrieb beispielsweise [...] ,... die Wahrheit,
    deren Mutter die Geschichte ist [...].` Verfaßt im 17. Jahrhundert, verfaßt
    von dem ,Laienverstand` Cervantes', ist die Auszählung nichts weiter als
    ein rhetorisches Lob auf die Geschichte. Menard dagegen schreibt: [...,Die
    Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist.`] Die Geschichte, Mutter der
    Wahrheit: dieser Gedanke ist überwältigend. Menard, Zeitgenosse von William
    James, definiert die Geschichte mitnichten als eine Erforschung der
    Wirklichkeit, sondern als deren Ursprung.

Mit Borges' Erzählung ließe sich argumentieren, daß Plagiate, Raubkopien zwar
ein juristischer Tatbestand sein mögen, aus ästhetischer Sicht aber keine Form
der Aneignung illegitim oder unoriginell sein kann, ja, schon jede neue Lektüre
eines Texts ein Plagiat ist, weil sie erstens seine Zeichen wiederholt und
zweitens ihn zwangsläufig unzeitgemäß wahrnimmt und genau wie Menard in eine
moderne Sichtweise transkribiert. Der ,,Pierre Menard`` ließe sich somit als
eine Allegorie aller Leser, Kritiker und Philologen deuten. Nicht nur ist jede
Parodie ein (Teil-)Plagiat, jedes Plagiat ist, ob beabsichtigt oder nicht, auch
eine Parodie.

Der moderne Begriff der literarischen Parodie wurde maßgeblich geprägt von dem
russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin und seiner Theorie der
,,Dialogizität`` aus den 1920er Jahren. An Dostoevskijs Romanen hatte Bachtin
beobachtet, wie sich ein Text maskiert, indem der die Sprache seiner Figuren
spricht. Später identifizierte Bachtin diese Sprachmaskierung als formatives
Merkmal des Romans überhaupt, das er, am Beispiel von Rabelais' grotesken
Romanen, auf eine volkstümliche Lachkultur zurückführte und auf die
karnevalistischen Parodierung hoher Kunst und offizieller Diskurse. Die
strukturalistische Literaturtheorie der 1960er Jahre, besonders die frühen
Schriften von Julia Kristeva, destillierten aus Bachtins Theorie der hybriden
Maskierung und parodistischen Doppelzüngigkeit im Romanwort einen neuen Begriff
der ,,Intertextualität``, der sich seitdem als allgemeiner Terminus für die
Bezugnahme von Texten auf Texte durchgesetzt hat.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht kann Intertextualität nicht von einer
Anti-Intertextualität unterschieden werden, denn jeder Text besteht aus
Buchstaben, Wörtern und Phrasen, die dem Sprachrepertoire (Paradigma) entnommen
werden. Jedes Sprechen ist Zitieren. Intertextualität wird plagiatorisch, wenn
Zeichenketten von einer hohen Komplexität und Unterscheidbarkeit - wie zum
Beispiel der gesamte Romantext des ,,Don Quijote`` - in einem zweiten Text
wiederkehren. So kennzeichnet die Kunst des 20. Jahrhunderts eine systematische
Verletzung von geistigem Eigentum, die nicht erst mit postmoderner Zitaten- und
popkultureller Sampleästhetik einsetzt, sondern bereits in den Collagen der
Kubisten, Futuristen und Dadaisten beginnt, in den Montageromanen und Joyce und
Döblin und der Montagemusik von Cage und Zimmermann. Hieran zeigen sich
ähnliche Unschärfen und Widersprüche wie in der Abgrenzung von Urheber-,
Nutzungs- und Patentrecht: Juristischen Anstoß erregten künstlerische
Zeichenappropriationen erst, als sie von den hochkulturell geschützten
Avantgarden in Populärkultur migrierten und man Hiphop-Musiker wegen
unautorisierten Samplings verklagte.

,,Open Content``-Projekte

Wenn es eine jahrhundertalte Poetik und Ästhetik des Intertextuellen gibt, gibt
es dann auch eine neue Ästhetik des freien Codes? Ein sowohl klassisches, als
auch schlechtes Beispiel ist das ,,Project Gutenberg``, das noch vor der
Erfindung des World Wide Web eine öffentliche digitale Bibliothek der
Weltliteratur erstellen wollte; schlecht ist sein Beispiel deshalb, weil es
einen provinziellen Literaturkanon mit editorischem Dilettantismus und unklarer
Lizenzpolitik verbindet. Unter der Flagge des ,,Open Content`` segeln, neben
Musikern, die ihre Tondateien unter freien Lizenzen vertreiben, eine Reihe von
Mitschreibprojekten, von denen mir vor allem drei bekannt sind:

  * ,,Open Theory``, eine deutschsprachige politische Diskursplattform
    PDS-naher Marxisten aus dem Umfeld der Mailingliste ,,Oekonux``. Eine
    einfache Web-basierte Schreiboberfläche erlaubt es, Essays kollaborativ als
    Kette von Kommentierungen zu verfassen. Alle Texte, die auf ,,Open Theory``
    entstehen, werden unter die GNU Free Documentation License gestellt.
  * Lawrence Lessig, Jura-Professor an der Harvard University und mit seinen
    Kollegen Ebden Moglen, dem Juristen hinter der GNU General Public License,
    und James Boyle der führende Rechtstheoretiker des Internets und Freier
    Software betreibt eine juristische Website ,,Open Law`` sowie neuerdings
    das Projekt ,,Creative Commons``. ,,Creative Commons``, das zum Zeitpunkt
    der Abfassung dieses Texts noch nicht online war, soll eine zentrale
    Anlaufstelle für Freie Software und ,,Open Content``-Projekte werden und
    über verschiedene freie Lizenzen beraten.
  * Nupedia, eine noch im Enstehen begriffene freie Enzyklopädie, deren Artikel
    redaktionell aus Texten ausgewählt werden, die auf der offenen
    Web-Schreibplattform WikiPedia entstehen. Das Projekt einer freien
    Enzyklopädie wurde ursprünglich vom GNU-Projekt angeregt, mittlerweile ist
    GNUpedia in der Nupedia aufgegangen.

Sollten Projekte wie die Nupedia einmal kritische Masse gewinnen (wofür auch
das GNU-Softwareprojekt fast zehn Jahre lang brauchte), so würden Sie vor allem
die Wissenschaften vor interessante Herausforderungen stellen. Indem ,,Open
Content``-Plattformen die kollaborativen Produktionsweisen freier
Softwareentwicklung übernehmen, adaptieren sie Methoden, die ihrerseits von den
Wissenschaften und ihrem Prinzip des kollektiven peer review übernommen wurden.
Nur wird die Wissenserzeugung der Open Content-Projekte durch ihren Umweg über
die Freie Software keineswegs wieder zu traditioneller Wissenschaft. So, wie
das Copyleft traditionelle Zitierfreiheit letztlich neudefiniert und
radikalisiert hat, entkleidet Freie Software-Entwicklung wissenschaftliche
Arbeitsweisen aller institutionellen Rituale und ständischen Hierarchien. Ihre
nüchterne Meritokratie drückt sich zum Beispiel darin aus, daß der
Entwicklungschef des stabilen, für Endnutzer vorgesehenen Linux-Kernels ein
18jähriger Brasilianer ist.

Allerdings fällt jeder quantitative und qualitative Vergleich von ,,Open
Content``-Schreibprojekten mit freier Software ernüchternd aus, erst recht,
wenn man bedenkt, daß der Start von http://www.opencontent.org bereits vier
Jahre zurückliegt. So ist ,,Open Content`` virulenter als potentielles
Lizenzierungsmodell für bestehende freie Informationsangebote, denn als ein
Konzept, das eigene Angebote generiert oder kommerzielle Geschäftsmodelle in
Frage stellt. Noch mehr gilt dies für die Künste. Das verbreitete Argument, daß
ohnehin nur die wenigste Künstlern leben von der Publikation ihrer Werke leben
könnten - Lyrikbände selbst namhafter Autoren haben zum Beispiel selten
Auflagen von mehr als wenige hundert Stück -, verkennt zum Beispiel die
Notwendigkeit und Kosten eines professionellen Lektorats, der Redaktion,
Übersetzung und Edition. Öpen Content" ist daher kaum interessant für
privatwirtschaftliche Verlage, die berechtigterweise auf traditionellen
Urheberrechtsschutz angewiesen sind, um professionell arbeiten zu können,
sondern vielmehr eine Herausforderung für den öffentlichen Sektor. Im Zeitalter
des Internets müssen unbequeme Fragen gestellt werden, wie zum Beispiel: Warum
werden öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse durch Verlage oder gar
Patente proprietarisiert? Warum müssen staatlich finanzierte
Literatur-Editionen nicht unter freier Nutzungslizenz ins Internet gestellt
werden? Warum gilt ähnliches nicht für öffentlich bezahlte Auftragsarbeiten:
Dramen für Stadttheater, Kunst am Bau, Auftragskompositionen? Warum sind
gebührenfinanzierte Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht
öffentlich verfügbar, sondern werden lizenzkostenpflichtig in Rundfunkarchiven
gehortet?

Zuletzt

Das Schlagwort ,,Open Content`` führt mittel- und langfristig auf den Holzweg,
wenn man sich der ihm eingeschriebenen Ideologie von Form und Inhalt entledigt.
Die Gegenspieler haben dies schon begriffen, wenn sie per ,,Digital Rights
Management`` und kryptographischen ,,Fingerabdrücken`` Nutzungskontrollen
direkt in Datenströme einkodieren. Im Richtungskampf über die künftige Ordnung
digitalen Wissens können sogenannte digitale ,,Inhalte`` nicht von digitalen
Formaten, Software- und Hardware-Architekturen separiert werden, die ihrerseits
politisch und ästhetisch codierte Schriften sind.



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