[rohrpost]ABC des Lebens
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Tue, 25 Sep 2001 21:24:48 +0200
Jean Tardieu „Das Abc des Lebens“ im Theaterforum Kreuzberg
Die Schauspielerin Monica Pascuta hat ihren Weg vom Theater des Nordens in Sathmar (Satu Mare) auf die Bretter der Berliner Bühnen gefunden
Im Theaterforum Kreuzberg hatte am 21. September 2001 „Das Abc des Lebens - ein Gedicht für die Bühne“ des Poeten Jean Tardieu Premiere, das noch weiterhin bis Ende Oktober jeweils Freitag, Samstag, Sonntag um 20.00 Uhr aufgeführt wird.
Tardieu gilt als einer der bekanntesten Dichter Frankreichs, er war Schriftsteller, Theaterautor, Übersetzer und Essayist, ein Hauptwerk „Der verborgene Fluss“ erschien 1933. Er verfasste etliche Einakter, Gedichte und Versdramen, in denen die Strömung des sogenannten Lettrisme mit ihrer Betonung phonetischer und visueller Aspekte in Richtung konkrete Poesie verweist. Generationsspezifisch sind Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten zentrales Thema in Tardieus Werk. Als Schriftsteller im Paris der 20er Jahre (in dieses Paris stimmen im Theater-Foyer Schwarzweißfotografien von Jochen Melzian ein) war er im unmittelbaren Kontakt mit dem Surrealismus, mit Paul Eluard, 1927 erschien auf Veranlassung von André Gide der erste Gedichtband. Tardieu wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, so 1993 den französischen Literaturpreis „Grand Prix des Lettres“. Er gehörte keiner konkreten literarischen Schule an, in seinen teils absurd-surrealistischen Werken vermischen sich Traum und Wirklichkeit. Sein dichterisches Werk lässt sich mit Gattungsbegriffen nur sehr äußerlich bestimmen. „Ich habe mir oft gedacht, dass die sichtbare Welt eine vergessene Sprache sei, ein Kode, zu dem wir den Schlüssel verloren haben“ sagt Tardieu. Seine Formenvielfalt reicht vom Gedicht in herkömmlichen Versformen bis zur poetischen Prosa, vom humoristischen Kinderbuch bis zum Bilderbuch, das heißt hier zur dichterischen Abhandlung über Malerei, vom inneren Monolog bis zum Theaterstück. „Die Poesie ist alles das, was die Definition der Poesie nicht fassen kann“, sagte er einmal. In Deutschland wurde er durch Theaterstücke wie „Die Liebenden in der Untergrundbahn“ „Faust und Yorick“, „Kammertheater“, „Professor Froeppel“ sowie den Gedicht- und Prosaband „Mein imaginäres Museum“ bekannt.
Schon in früher Jugend versuchte Tardieu, Theaterstücke zu schreiben; später wandte er sich dann einer formstrengen lyrischen Dichtung zu, die vom Werk Mallarmés beeinflusst war. Er experimentierte mit Sprache nach Art von Jacques Prévert und Raymond Queneau. „So habe ich, noch ganz jung, mit den Wörtern gespielt, vielmehr mit ihren Leibern, ihrem Klang und sichtbaren Zeichen als mit ihrem Inhalt. Es kam vor, dass ich ein ganz gewöhnliches Wort so lange mit hypnotischer Strenge angestarrt habe, bis es jede Bedeutung verlor.“ Schon früh erdachte Jean Tardieu ein gesprochenes „Orchesterwerk“, ein symphonisches Konzert von Stimmen und Sätzen, die nicht gesungen, sondern gesprochen, nicht klanglich, sondern bedeutungsgemäß komponiert sein sollten. Ein erster Versuch dieser Art ist eine „Conversation-Sinfonietta“ für sechs Choristen (erster Bass, zweiter Bass, erster Alt, zweiter Alt, Tenor und ein Dirigent).
Ein späterer Versuch, die formale Struktur der Musik für die Dramaturgie zu erschließen, ist das „Abc des Lebens“, das umfangreichste unter den Kammertheater-Stücken, eine lyrische Textkomposition, die in ihrer formalen Struktur präzise dem Aufbau einer Sonate folgt. So ist der Text zuerst nur auf den reinen Sprechtext reduziert, er vermittelt sozusagen nur die Wortpatitur, szenische Aktionen müssen in der Probezeit von den Schauspielern entwickelt werden. Eine Hauptfigur hat gleichsam die Rolle des konzertanten Soloinstruments, die übrigen - vor allem ein Sprechchor besonderer Art - sind das orchestrale Ensemble. Tardieu variiert hier eines seiner Hauptthemen: Das Verhältnis von Individuum und Masse, die wechselseitige Auslegung des Menschen durch den Menschen. Wie auch in anderen Stücken der Moderne wird keine dramatische Entwicklung verfolgt, sondern eine Situation in Zustand und Befindlichkeit poetisch reflektiert. Die Berliner Inszenierung betreute Anemone Poland als Regisseurin mit einem multikulturellen Ensemble, das sich aus sechs verschiedenen Nationen zusammensetzt (Deutschland, England, Finnland, Marokko, Rumänien, Schweiz). Pantomimische und tänzerische Elemente, wunderbar pointierte Musikkompositionen des bekannten Liedermachers Ulrich Roski, visuelle Mittel wie Projektionen, Spiegelungen, Schrifteinblendungen - performance writing verbinden sich zu einem heiteren, dichten, poetischen Theaterabend. „Das Abc des Lebens“ ist teils slapstickhaft komödiantisch, teils parabelhaft-abstrahiert, erinnert an viele schöne Theaterabende, an Eugène Ionesco und Wolfgang Hildesheimer, an die Oberiuten oder die Futuristen.
Die Bühne (Gestaltung Can Henne) in Grau, auf einer Eisenpritsche Jean (Rainer Philippi), ein junger Mann hat einen arbeitsfreien Tag. Die gewohnten mechanischen Abläufe des Alltäglichen sind für ihn unterbrochen. Er erfährt sich in seiner subjektiven, losgelösten Zeit. In einer Art Wachtraum erscheint ihm seine Umgebung transparent, erlebt er seine Stadt als Synthese, indem er sie gleichzeitig von innen und außen sieht, mit den Menschen und ihren verworrenen Träumen, hier und heute, Schatten menschlicher Rede und Erinnerung, Wörterwald, Dickicht aus Wörtern. Er ist der Individualist auf der Suche nach der Freiheit seiner Kindertage, durch Traumlabyrinthe, ein Sein wie der Wind, schwebend und ästhetisch. Es mischen sich ein Herr Wort (Wolf Hedrich) und Frau Wort (Monica Pascuta) zwei skurrile Figuren, die kommentieren, ironisieren, antreiben, sticheln, unterbrechen, reichlich Unwesen treiben. Sie treten nur gemeinsam auf, haben durch ihre Schminke clowneske Züge, Frau Wort tritt einen Lampenschirm als Rock. Ihr Sprach-Alphabet rinnt wie Sand einer Eieruhr. Und dann sind da noch die vielen Stadtbewohner, die man im Laufe eines Tages treffen kann, ein Menschenmeer, wechselnde Profile, anonyme, flüchtige Erscheinungen, Gesten, Situationen, Träumende, Hausfrauen und Liebende, die Seherin (Claudia Bathke), die Verfolgte (Louise Gregory), der Militarist (Jürgen Ruoff), der Blinde (Rafael Braun) Putzfrau (Susanna Reinhart), das junge Paar (Meri Koivisto und Hakim el Hachoumi), Hausbewohner, Arbeiter, Angestellte, Computerfachmann, Stenotypistin, Bürochef, Ausfeger (in einer Fabrik-Pantomime, die an die monotone Mechanik des Räderwerks in Chaplins „Moderne Zeiten“ erinnert) Kellner, Restaurantangestellte, Passanten. Sie alle entfachen ein sich summierendes Stimmengewirr wie Kleiderfetzen, Satzfetzen, zufällige Begegnungen. Jean: „Wörter! Fremde Wörter. Bin gefangen in fremden Wörtern der anderen, finde nicht meine Worte in fremden Geschichten der anderen, finde nicht meine Geschichte.“ Chor: „Der Mensch entflieht den Menschen nicht.“ Die Arbeitswelt, der Kontrast Individuum/Menge wird deutlich thematisiert, der Freiheitssehnsucht stehen kollektive Alpträume gegenüber. Die Grundfragen kehren zurück zur existenziellen Frage des Seins „Bin ich?“ Immer wiederkehrend „Ich wartete und Du bist nicht gekommen.“ Mündend in den Versuch die Wahrheit zu finden, einsehbar und verschlossen zugleich. „Das Ende ist der Anfang, und doch machen wir weiter”, heißt es in Becketts „Endspiel“. Hinter- und Übersinniges gefielen den Zuschauern hörbar, sorgten für allgemeine Erheiterung, eine hervorragende Leistung, die das Publikum mit anhaltendem Schluss-Applaus honorierte.
„Wie? Es wäre nicht erlaubt und möglich, in Tönen zu denken und in Worten und Gedanken zu musizieren?“, fragte sich schon Ludwig Tieck im Vorspiel zur „Verkehrten Welt“. Tardieu formuliert seine Auffassung so: „Meine Schreibweise ist nicht die gleiche, die dem Leben dient oder zur Erkenntnis. Sie ist sie selbst (oder will es sein), zugleich diesseits und jenseits der Sprache. Deshalb ähnelt sie den anderen Künsten. Ich versuche, die Worte wie Farben zu mischen, oder sie klingen zu lassen wie Musik. Es scheint mir, als hätte ich zuerst die Worte um ihrer selbst willen geliebt, jenseits dessen, was sie bedeuten. Mal um ihres Klanges willen oder des Rhythmus willen, der sie zueinander zieht, mal um ihres sichtbaren Zeichens: der Buchstabe, den man zeichnet, vertieft die Seite, wie der Vogel im Raum schreibt.“ Poèmes à jouer, Gedichte zum Spielen hat Tardieu einige seiner Theaterstücke genannt. Es sind Gedichte, die nicht auf einem Blatt Papier stehen, sondern mit den Körpern, den Gesten und Bewegungen, den Stimmen der Schauspieler in den Raum des Theaters geschrieben werden.
Und Monica Pascuta? Einige kennen sie aus Shakespeares „Romeo und Julia“ aus Satu Mare, viele werden sie vom Tourneetheater der politischen Kabarett- und Humorgruppe „Cascadorii Risului“ aus Oradea kennen, vielleicht vom Schwarzen Meer. Für die Diplomschauspielerin der Universität Babes-Bolay, Cluj-Napoca, war es ein schwieriger Einstieg in die Berliner Theaterszene. Trotz harter Arbeit z.B. über Shakespeare im Ateliertheater bei Radu Penciulescu, Butoh bei Hikaro Otsubo, Theatermethoden des Laboratorium Grotowski bei Jaques Gardel aus der Schweiz, trotz zahlreicher Festivalteilnahme (Internationales Theaterfestival in Piatra-Neamt, Festival Theaters der Imagination in Satu Mare, Studententheaterfestival in Slobozia, Festival des zeitgenössischen Theaters in Brasov, Ateliertheater-Festival in Sfantu-Gheorghe, Internationales Theaterfestival in Sibiu, Gala der Nationaltheater in Cluj-Napoca, Festival Gata in Bukarest), der Blick von Berlin aus fällt zu selten auf die rumänische Theaterszene, sich auch in Deutschland zu behaupten war mühevoll. Doch die Rollen liegen ihr, sie ähneln denen als Il’Capitano in der Commedia dell’ Arte, Mama Roberta in „Die Zukunft liegt in den Eiern“, Jaqueline in „Jacques oder Diener“, die Verliebte in „Der Herr“ von E. Ionesco Godot in „Ultimo Godot“ von Vishinec und die Zukunft lässt hoffen.
Das Theaterforum Kreuzberg ist eine kleine eigenwillige Berliner Off-Bühne, deren experimentelle Arbeit von einem ambitionierten Profi-Ensemble getragen wird. Das Domizil liegt in der Eisenbahnstraße am Rande Kreuzbergs, dort wo die Spree die Grenze zu Friedrichshain bildet, im Hinterhaus eines romantischen Hinterhofs. Neben 2-4 Eigenproduktionen finden viele Gastspiele aus dem In- und Ausland statt. Der Bühnenraum bietet knapp 100 Zuschauern auf vier steil aufsteigenden, samtgepolsterten Tribünenreihen Platz. Eine prächtig Kassettendecke mit Stuck erinnert daran, dass sich hier einmal der Ballsaal des Offizierskasino „Köpenicker Hof“ befand. Die Atmosphäre ist angenehm intim. Die unmittelbare Nähe der Zuschauerplätze zur Bühne erlaubt eine direkte Begegnung zwischen Akteuren und Publikum.
Die inhaltliche Arbeit des Theaterforums Kreuzberg konzentrierte sich im Laufe der letzten Jahre auf das schauspielmethodische Werk von Michael Tschechow, einem Neffen des russischen Dramatikers Anton Tschechow. Dieser außergewöhnliche Künstler, von dem Max Reinhard einmal sagte, er sei „ein Stern in unmittelbarer Nähe des Herzens“, war zeit seines Lebens auf der Suche nach einem „Theater der Zukunft“. Darüber hinaus stehen Stücke wie die tragikomische Farce „Das Orchester“ von Jean Anoilh und die Groteske „Butter oder Die Verranztheit“ nach einer Erzählung von Ivan Vyskocil auf dem Spielplan. Und immer wieder der Blick auf den Osten mit seinen Theaterexperimenten. Bevorzugt kommen Berliner Erstaufführungen auf die Bretter, wie beispielsweise die szenische Adoption der nicht-szenischen Komödie „Der ununterbrochene Akt“ des zeitgenössischen polnischen Dramatikers Tadeusz Rózewicz.
Begleitend zu den Stücken werden schon traditionell Lesungen mit anschließender Möglichkeit zur Diskussion mit Schauspielern und Regisseurin angeboten. Am 10. Oktober findet um 20.00 Uhr eine Lesung von Gedichten, Prosa und kurze Szenen ein Abend unter dem Titel „Wer bist denn dü?“ statt.
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