[rohrpost] Susan Sontag in der American Academy

Pit Schultz pit@klubradio.de
Mon, 17 Sep 2001 14:59:30 +0200


[text gegen bild? einer der versuche der letzten tage im konkurrenzkampf
der klassischen oeffentlichen intellektuellen mit den 'neuen'
elektronischen massenmedien ..]



"Unsere St=E4rke wird uns nicht helfen"

Susan Sontag =FCber Amerikas Selbstbetrug

gelesen in der American Academy, Berlin, am 13.09.2001

Als entsetzter und trauriger Amerikanerin und New Yorkerin scheint es mir,=
=20
als sei Amerika niemals weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als am=
=20
letzten Dienstag, dem Tag, an dem ein =DCberma=DF an Wirklichkeit auf uns=20
einst=FCrzte. Das Mi=DFverh=E4ltnis zwischen den Ereignissen und der Art und=
=20
Weise, wie sie aufgenommen und verarbeitet wurden, auf der einen Seite und=
=20
dem selbstgerechten Bl=F6dsinn und den dreisten T=E4uschungen praktisch=
 aller=20
Politiker (mit Ausnahme von B=FCrgermeister Giuliani) und=20
Fernsehkommentatoren (ausgenommen Peter Jennings) auf der anderen Seite,=20
ist alarmierend und deprimierend. Die Stimmen, die zust=E4ndig sind, wenn es=
=20
gilt, ein solches Ereignis zu kommentieren, schienen sich zu einer Kampagne=
=20
verschworen zu haben. Ihr Ziel: die =D6ffentlichkeit noch mehr zu verdummen.

Wo ist das Eingest=E4ndnis, da=DF es sich nicht um einen "feigen" Angriff=
 auf=20
die "Zivilisation", die "Freiheit", die "Menschlichkeit" oder die "freie=20
Welt" gehandelt hat, sondern um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten,=
=20
die einzige selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als=20
Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten=20
unternommen wurde? Wie vielen Amerikanern ist bewu=DFt, da=DF die Amerikaner=
=20
immer noch Bomben auf den Irak werfen? Und wenn man das Wort "feige" in den=
=20
Mund nimmt, dann sollte es besser auf jene angewandt werden, die=20
Vergeltungsschl=E4ge aus dem Himmel ausf=FChren, und nicht auf jene, die=
 bereit=20
sind, selbst zu sterben, um andere zu t=F6ten. Wenn wir von Mut sprechen,=
 der=20
einzigen moralisch neutralen Tugend, dann kann man den Attent=E4tern - was=
=20
immer sonst auch =FCber sie zu sagen w=E4re - eines nicht vorwerfen: da=DF=
 sie=20
Feiglinge seien.

Unsere politische F=FChrung redet uns entschlossen ein, alles sei in=
 Ordnung.=20
Amerika f=FCrchtet sich nicht. Unser Geist ist ungebrochen. "Sie" werden=20
aufgesp=FCrt und bestraft werden (wer immer "sie" sind). Wir haben einen=20
Pr=E4sidenten, der uns wie ein Roboter immer wieder versichert, da=DF=
 Amerika=20
nach wie vor aufrecht steht. Von vielen Personen des =F6ffentlichen Lebens,=
=20
die die Au=DFenpolitik der Regierung Bush noch vor kurzem heftig kritisiert=
=20
haben, ist jetzt nur noch eines zu h=F6ren: da=DF sie, gemeinsam mit dem=20
gesamten amerikanischen Volk, vereint und furchtlos hinter dem Pr=E4sidenten=
=20
stehen. Die Kommentatoren berichten, da=DF man sich in psychologischen=20
Zentren um die Trauernden k=FCmmert. Nat=FCrlich werden uns keine gr=E4=DFli=
chen=20
Bilder davon gezeigt, was den Menschen zugesto=DFen ist, die im World Trade=
=20
Center gearbeitet haben. Solche Bilder k=F6nnten uns ja entmutigen. Erst=
 zwei=20
Tage sp=E4ter, am Donnerstag (auch hier bildete B=FCrgermeister Guiliani=
 wieder=20
eine Ausnahme), wurden erste =F6ffentliche Sch=E4tzungen =FCber die Zahl der=
=20
Opfer gewagt.

Es ist uns gesagt worden, da=DF alles in Ordnung ist oder zumindest wieder=
 in=20
Ordnung kommen wird, obwohl der Dienstag als Tag der Niedertracht in die=20
Geschichte eingehen wird und Amerika sich nun im Krieg befindet. Nichts ist=
=20
in Ordnung. Und nichts hat dieses Ereignis mit Pearl Harbor gemein. Es wird=
=20
sehr gr=FCndlich nachgedacht werden m=FCssen - und vielleicht hat man ja=
 damit=20
in Washington und anderswo schon begonnen - =FCber das kolossale Versagen=
 der=20
amerikanischen Geheimdienste, die Zukunft der amerikanischen Politik=20
besonders im Nahen Osten und =FCber vern=FCnftige milit=E4rische=20
Verteidigungsprogramme f=FCr dieses Land. Es ist aber klar zu erkennen, da=
=DF=20
unsere F=FChrer - jene, die im Amt sind; jene, die ein Amt begehren; jene,=
=20
die einmal im Amt waren - sich mit der willf=E4hrigen Unterst=FCtzung der=20
Medien dazu entschlossen haben, der =D6ffentlichkeit nicht zuviel=20
Wirklichkeit zuzumuten. Fr=FCher haben wir die einstimmig beklatschten und=
=20
selbstgerechten Platit=FCden sowjetischer Parteitage verachtet. Die=20
Einstimmigkeit der fr=F6mmlerischen, realit=E4tsverzerrenden Rhetorik fast=
=20
aller Politiker und Kommentatoren in den Medien in diesen letzten Tagen ist=
=20
einer Demokratie unw=FCrdig.

Unsere politischen H=E4upter haben uns auch wissen lassen, da=DF sie ihre=20
Aufgabe als Auftrag zur Manipulation begreifen: Vertrauensbildung und=20
Management von Trauer und Leid. Politik, die Politik einer Demokratie - die=
=20
Uneinigkeit und Widerspruch zur Folge hat und Offenheit f=F6rdert, ist durch=
=20
Psychotherapie abgel=F6st worden. La=DFt uns gemeinsam trauern. Aber la=DFt=
 nicht=20
zu, da=DF wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben. Ein K=F6rnchen=
 historischen=20
Bewu=DFtseins k=F6nnte uns dabei helfen, das Geschehene und das Kommende zu=
=20
verstehen. "Unser Land ist stark", wird uns wieder und wieder gesagt. Ich=20
finde dies nicht unbedingt tr=F6stlich. Wer k=F6nnte bezweifeln, da=DF=
 Amerika=20
stark ist? Aber St=E4rke ist nicht alles, was Amerika jetzt zeigen mu=DF.

http://sontag.4t.com/