[rohrpost] Cyberville

"Baumgärtel, Dr. Tilman" tilman.baumgaertel@berlinonline.de
Wed, 10 Oct 2001 14:07:48 +0200


Geschrieben fuer "Medienrezensionen". 

Gruesse, 
Tilman 

Stacy Horn: Cyberville - Clicks, Culture, and the Creation of an Online Town

New York: Warner Books 1998, 340 S., ISBN 0-446-51909-X, $ 17.99

Wer einem jungen Menschen erklären will, warum das Internet einmal so eine
unglaublich aufregende Sache war, sollte ihm oder ihr diese Publikation
geben. Cyberville von Stacy Horn ist wahrscheinlich das beste Buch über die
goldenen Jahre der Online-Kommunikation - oder wenigstens das, was die alte
Garde der Netznutzer dafür halten mag. 
Die Möglichkeit, plötzlich mit Menschen, die man nie getroffen hatte,
anspruchsvolle Diskussionen zu führen und sich ein Medium zu erobern, dass
so avanciert war, dass die meisten Leute noch nie etwas davon gehört hatten,
war eine erhebende Angelegenheit. Aber freilich nicht nur das. Es war auch
der Anfang vieler schöner Feindschaften, grausiger Flame-Wars und
erstaunlicher Begegnungen mit Menschen, die ihr antisoziales Verhalten
mühelos in den neu entdeckten Cyberspace übertrugen - wo man sie aber, im
Gegensatz zu wirklichen Welt, nicht einfach irgendwo abhängen konnte,
sondern ihren Angriffen, Verschwörungstheorien und ihrem Blödsinn hilflos
ausgesetzt war.
Stacy Horn hat das alles einmal ausführlich aufgeschrieben, und sie schreibt
aus wahrlich gut informierter Perspektive: Als Gründerin der New Yorker
Mailbox Echo hat sie die Höhe- und Tiefpunkte von Virtual Communities
ausführlich studieren und zum Teil sogar am eigenen Leib erfahren können.
Echo war seit 1988 das BBS der New Yorker Künstler und Intellektuellen, eine
Art East Coast-Antwort auf das kalifornische Idyll der Cyber-Esoteriker und
Greatful-Dead-Fans, die sich bei The Well ein Stelldichein gaben. Im
Gegensatz zu der von Künstlern für Künstler konzipierten Mailbox The Thing
sprach Echo nicht nur die Kunstszene an, sondern versprengte New Yorker
Intellektuelle aus den verschiedensten Kulturbereichen.
In Cyberville lernen wir eine Reihe von Menschen kennen, die sich und uns
nie begegnet wären, wenn es "Echo" nicht gegeben hätte: Miss Outer Boro,
Neandergal, Was it good for Jew? und Jane Doe sind genau die
Online-Bekanntschaften, die man wahrscheinlich nur Anfang der neunziger
Jahre machen konnte, als es für intelligente Menschen noch eine reizvolle
Angelegenheit war, sich tage- oder wochenlang via Computer zu Themen wie dem
neuesten Film von Martin Scorsese, klitoralen Orgasmen oder einem
skandalösen Performance-Künstler auszutauschen. 
Diese Art von Meinungsäußerung ist inzwischen zum Geschäftsmodell von Firmen
wie Dooyoo oder Epinions geworden, aber es war einmal ein aufregender und
unkommerzieller Spaß. Und am interessantesten war es freilich, die Grenzen
dieses Spaßes auszuloten. Cyberville ist voll von Beispielen für die Höhen
und Tiefen, zu denen die Online-Kommunikation von einigermaßen wachen Leuten
getrieben werden konnte. 
Es gibt ausführliche Kapitel über Gestalten wie Mr Happy, der seine neu
gefundenen Freunde ausführlich über seinen scheinbar chronischen Durchfall
informieren musste, die handelsüblichen Frauenbelästiger (die freilich in
Wirklichkeit immer nur falsch verstanden wurden und eigentlich super-nette
Kerle waren), oder 'den Nazi' - genau die Typen, die die ungeschriebenen
Regeln der frisch gebackenen virtuellen Gemeinschaft auf eine harte Probe
stellen. Und natürlich auch über die 'beinharten Diskussionen', bei denen
auch der größte 'Nervsack' noch seine basisdemokratischen Verteidiger
findet. 
Stacy Horn beschreibt dieses virtuelle Treiben mit dem abgebrühten Humor,
der für New Yorker und die Betreiber solcher Online-Gemeinschaften
gleichermaßen typisch ist. Im Gegensatz zu Howard Rheingold, der in seinem
Klassiker Virtual Communities [] das Hohelied auf die frühen Jahren der
vernetzten Kommunikation sang, ist Horn besonders aufmerksam für die
Konfliktpunkte, die sich im regelfreien Raum einer Mailbox entwickeln
können. Und die schildert sie mit soviel Gusto, dass man sich manchmal
fragt, wie sich dieser verstrittene Haufen samstags im Central Park zum
Sport oder montags zum Trinken in einer Kneipe in Manhattan treffen konnte.
Ach so, Eheschließungen, Taufen, Selbstmorde und alle anderen Facetten der
'condition humaine' gibt es in Cyberville natürlich auch. 
Die Echo-Dramen beschreibt Horn so liebevoll und in so farbigen Details,
dass sich ihr Buch spannender ließt als viele Romane. Zum Glück hat sie nie
etwas von den endlosen Debatten von der Festplatte ihres Computers gelöscht
und kann so auf ein gigantisches digitales Archiv des Online-Lebens
zurückgreifen, das inzwischen dem Technologiewechsel von Mailboxen auf
Internet zum Opfer gefallen ist. 
Tilman Baumgärtel (Berlin)