[rohrpost] In zehn Jahren sind wir vielleicht alle Muslime.

Reinhold Grether Reinhold.Grether@uni-konstanz.de
Thu, 08 Nov 2001 15:49:17 +0100


[Auf der Konstanzer Konferenz "Vom Laendle zum L@ndle"
hielt ich den Vortrag "Das Netz in zehn Jahren: Entwicklungstrends
hin zur Netzwerkgesellschaft". Am Rande der Konferenz stellten
Doreen Pick und Lutz Hager folgende Fragen:]


QP: Was ist revolutionaer an der Digitalisierung? Werden wir in
einer anderen Gesellschaft leben?

Reinhold: Das heute meist in religiossen Kontexten gebrauchte
Wort Oekumene meint urspruenglich das Einbegreifen der
gesamten lebenden Kulturmenschheit in eine allgemein verbindliche
Weltordnung. In der Menschheitsgeschichte lassen sich zwei
oekumenische Zeitalter unterscheiden. Das erste reicht von der
chinesischen, der indischen, der persischen, der makedonischen,
der roemischen, der islamischen, der abendlaendischen bis zur
mongolischen Oekumene. Schon die Bezeichnungen machen klar,
dass das jeweilige imperiale Ausgreifen, lange bevor es die
gesamte Menschheit umfasste, auf unueberwindliche Grenzen
stiess, hinter der es nur noch Barbaren gab. Die alten Imperialismen
waren von Politischen Theologien motiviert, die wiederum auf
Hochprofessionalisierungen der menschlichen Psyche beruhten.
Der Vulkanismus des Spiritualismus und seine Domestizierung
zu Religionen, Philosophien und Wissenschaften scheint mir
der produktive Kern der alten Oekumenen.

Seit fuenfhundert Jahren leben wir in einem zweiten oekumenischen
Zeitalter, das derzeit vom imperialen Ausgreifen der Vereinigten
Staaten gepraegt ist. Interessanterweise macht sich die neue
Oekumene immer mehr von spirituellen Bindungen frei, was
auf entschiedenen Widerstand von politischen Theologen der
alten Oekumenen stoesst. Zieht man oeffentlichkeitsbestimmte
Verbraemungen ab, geht es im zweiten oekumenischen Zeitalter
um die Verfuegbarmachung aller Codes, seien diese physikalisch,
biologisch, informationell oder sozial, um sie als Zweite Genesis
zu rekonfigurieren. Man klappt die vertikal gepraegte Welt
gewissermassen in die Horizontale und interessiert sich statt fuer
Hierarchien des Spirituellen fuer Netzwerke von Prozessen.
Deshalb spreche ich von einer "Weltrevolution der Netze",
von der das Digitale nur ein Moment ist. Das Digitale ist der
Geburtshelfer, der neue Formen des Analogen zur Welt bringt.


QP: Reinhold, Du bezeichnest Dich als Netzwissenschaftler.
Was ist das und wie hilft Netzwissenschaft die Zukunft der
Digitalisierung zu verstehen?

Reinhold:  Netzwissenschaft ist einerseits Wissenschaft der
Netze und andererseits Metawissenschaft des Netzwissens.
In einem ersten Schritt geht es darum, personell vorliegendes
und institutionell erarbeitetes Netzwissen auf einer Plattform
zusammenziehen, um es in einem zweiten Schritt systematisch
darzustellen. Greifen wir als ein Beispiel fuer Netze das Internet
heraus, so zeigt die Untersuchung der bislang vorliegenden
Internetforschung eine informatisch bzw. medienwissenschaftlich
bzw. sozialwissenschaftlich orientierte Verengung des
Forschungsgegenstands auf technische bzw. semiotische
bzw. soziale Netzwerke, obgleich erst deren Zusammenwirken
das Internet ausmacht. Auf der Internetplattform netzwissenschaft.de
ziehe ich die das Internet betreffenden Einzelforschungen
zusammen und spiegle die wissenschaftliche Selbstbeschreibung
des Internets in seinen Forschungskontext zurueck. Wer die
Interrelationen der auf netzwissenschaft.de zugaenglichen
Einzelforschungen rekonstruiert, bricht auf der Metaebene
zu genuin netzwissenschaftlichen Fragestellungen auf. Das
am Internet gewonnene Wissen mag dann auch bei
Untersuchungen anderer Netze hilfreich sein.


QP: Reinhold, Du bekommst am Tag bis zu 700 emails;
auf Deiner Netzwissenschaft-Seite hast Du 7000 Links.
Grenzt das nicht an Kommunikationsterror? Kann man im
Netz ueberleben?

Reinhold: In den alten Oekumenen fiel die Singularitaet Gottes
ins Denken ein, in den neuen sind es, notabene, Schwaerme
von emails. Als Zwischenwesen zweier Oekumenen kriegen
wir es sowohl von oben als auch von der Seite. Seit alters
entwickeln Menschen Talente, um mit entsprechenden
Zumutungen umzugehen. Bei mir sind das ein paar hundert
Mailfilter. Das meiste laeuft in Ordner, die ich nur fluechtig
durchsehen muss, weil sich darin mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit kaum netzwissenschaftlich relevante
Informationen befinden. Der Rest ist zwar Arbeit, aber
solche, die die Augen oeffnet. Das alles wuesste ich ohne die
Schwaerme nicht. Die Mailroutine verbindet mich mit meinem
Gegenstand. Bezahlt wird mit Blickverengung, da ich
anderweitig Interessantes uebergehe.


QP: Reinhold, du hast in deinem Vortrag gesagt, dass wir
uns "neu konfigurieren" muessen. Hat der Mensch der Technik
zu folgen, frei nach dem Motto: Fragt nicht was die Technik
fuer den Menschen tun kann, sondern der Mensch fuer die Technik?

Reinhold: Im ersten oekumenischen Zeitalter, als es um die
Hochprofessionalisierung der Psyche ging, konnte sich
"der Mensch" als bevorzugte Adresse empfinden. Im zweiten
oekumenischen Zeitalter wird buchstaeblich alles zur Adresse,
alle Elektronen, Basen, Pixel Orte. Je genauer man die
intelligenten Prozesse der physikalischen, biologischen,
informationellen und sozialen Netzwerke erfasst, desto weniger
Spielraum bleibt fuer die Ueberhoehung personaler Intelligenz.
Bewusstsein als deren Erlebensinstanz ist ja wahrscheinlich
ein selbstadressables Interface des Gehirns. Solche
selbstadressablen Interfaces duerften sich auch fuer andere
Intelligenzformen konstruieren lassen, was Distiktiongewinne
aus Bewusstsein weiter schmaelert. Gegen eine gewisse Folklore
des Menschen ist freilich wenig einzuwenden. Der Elferrat
der Ethikkommissionen lebe hoch.


QP: Microsoft gegen Open Source. Setzt Microsoft Standards,
die das Leben mit Internet&Co. erleichtern oder werden
wir und damit unser Leben durch Microsoft standardisiert
und gelenkt, wie einige der Seminarteilnehmer befuerchteten?

Reinhold:  Souveraen des zweiten oekumenischen Zeitalters ist,
wer den Code beherrscht. Das sind die Herren der Welt. Fuer
den Rest gibt es traditionell Zirkus. Diesmal in einer personalisierten
Abmischung aus Hollywood, Disney, TV, AOL und Internet.
Schulen ans Netz war ein reines Arenaprojekt. Ueber Code hat
es den Kids nichts beigebracht. Open Source ist demgegenueber
code- nicht zirkusorientiert. Weltweite selbstorganisierte
Entwicklergemeinschaften, z.B. um das Betriebssystem Linux
herum, erklaeren offengelegten Code in einer Lizenz aus
Veraenderungsrechten und Weitergabepflichten zum oeffentlichen
Gut. Im oeffentlichen Sektor sollte mit offener Software gearbeitet
werden, sofern nicht fuer jeden Einzelfall gerichtsfest nachgewiesen
werden kann, dass proprietaere Software die Aufgabe besser
meistert. Wem an offenen Gesellschaften gelegen ist, mache
Code zum Schulfach.


QP: Zum Abschluss: Die digitale Revolution, ist sie schon da,
wird sie noch kommen? Wie sieht das Netz in 10 Jahren aus?

Reinhold: Revolutionen finden statt, wenn jeder das Gegenteil
behauptet. Dass heute alle, einschliesslich frueherer Lobredner,
auf dem Internet herumhacken, gibt zum Optimismus Anlass.
Allerdings unternimmt die von bin Laden ueber Busch zu Schily
reichende Weltkoalition der Feinde der Freiheit derzeit alles,
um die bescheidenen Artikulationsmoeglichkeiten des Internets
zu beschneiden. Dem neuen Totalitarismus steht eine
weltumspannende Ueberwachungstechnologie zur Verfuegung,
die, wie man am rekonstruierten Tagesablauf der
WTC-Attentaeter sehen konnte, saemtliche Lebensvollzuege
erfasst. Eine gigantische Rechteindustrie legt sich zudem als
Alb ueber saemtliche analogen und digitalen Routinen, um sie
abgabenpflichtig zu machen oder ganz zu unterbinden.

Die Hauptgefahr fuer die Zivilgesellschaften des Westens
besteht in der Zerstoerung ihrer Innovationsnetzwerke. Das
Roemische Reich liess die auf die Neuzeit vorausweisenden
wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zum Zug kommen und
hatte folglich der Entfeindungstheologie des Christentums
nichts entgegenzusetzen. In zehn Jahren sind wir vielleicht
alle Muslime.